Grid-Graffiti

Der allabendliche Feierabendverkehr spülte Silvas babyblauen kleinen Smart A-SS in die innerstädtische Parkbucht unweit des Körperkult-Clusters, der das eigentliche Ziel der Passagierin war. Sie holte sich dort ihren regelmäßigen Schuss Klatsch ab, während sie brav duldete, dass ihre Gesprächspartnerinnen sie zuerst mit Quark vollschlonzten und dann mit Gemüse belegten. Nicht weit vom Eingang in die steingeflieste Passage assistierte ihr der freundliche Sitz beim Aussteigen-ohne-Slip-zeigen und sie überließ das Einparken jemandem, der sich damit auskannte: dem Auto.

Das kleine, aber durchaus konkurrenzfähige Hirn des Smart fand schnell eine kleine Parklücke am anderen Ende des halbrunden Platzes, wo sich das Gefährt vorsichtig hineinkuschelte. Es wollte pflichtbewusst den Motor abschalten, erinnerte sich dann aber wie jedesmal daran, dass es ein Modell mit Elektroantrieb und Brennstoffzelle war. Sofort wurde ihm langweilig, also fing es an, schwülstige Liebeslieder ins Kurzzeitgedächtnis zu cachen, denn wie an jedem Freitagabend war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Silva sich damit in Stimmung bringen wollte.

„Psst!“
Der kleine Smart A-SS wäre zusammengezuckt, mangels Muskeln dazu beschränkte er sich auf einfaches Erschrecktsein und Ursachenforschung.

„Psst! Hier oben. Das Plakat. Über Funk. Ich hab hier was für deine Chefin, das ist was ganz besonderes. Und weil mir dein … ähh… blauer Hintern so gut gefällt, geb ich dir einen Rabatt auf das implantierbare Headset auf dem Plakat. Musst nur das hier annehmen.“ Der Smart überlegte. Schließlich könnte da ja jeder Verbrecher kommen. Silva hatte allerdings nie befohlen, keine personalisierten Angebote zu puffern, also schlug er schließlich ein und nahm das Geschenk an. Wenige Millisekunden später passierte etwas Seltsames: Die Welt verfiel in einen ruckelnden Zeitraffer und kehrte erst zu normalem Verhalten zurück, als eine sichtlich aufgebrachte Silva auf die Heckscheibe trommelte.

„Haalllooo!! Du Scheißkiste, wach endlich auf! Ich will heute noch nach Hause! Scheiß-Technik! Ich stech dir gleich mit der Nagelfeile die Scheiß-Brems-LEDs aus! Ich… AAR!!“ Silva unterstrich ihre sachlich vorgetragenen Befehle mit einem Tritt ins Nummernschild. Prompt verlegte die TÜV-Plakette den Prüftermin um zwei Monate vor, wobei sie es irgendwie schaffte, ein selbstgefälliges Grinsen zu implizieren. Der gesamte Geduldsvorrat, den Silva im Salon getankt hatte, war damit schlagartig am Ende, deshalb war es gut, dass endlich das Auto ausparkte und ihr unterwürfig den Sitz entgegenstreckte.

Sie war angepisst, denn ihr Wutanfall eben hatte die frisch gemachten Haare schon wieder ein bisschen desorientiert. Die Laune war ohnehin dahin. Ungewollt auftauchende Erinnerungen an den heutigen Arbeitstag im Büro trugen ebenfalls nicht dazu bei, die Stimmung aufzuhellen. Gereizt gestikulierte sie ihre Musikliste auf einen Teil der Windschutzscheibe und ließ das Autoradio dann ein schwülstiges Liebeslied spielen. Als die ersten Passagen von „Make the World go away“ in ihre Ohren sickerten, begann sie, sich langsam wieder zu beruhigen. Hey, es war Wochenende, Thomas würde sie daheim mit einem Abendessen erwarten und nach all diesen Gesichtsmasken sah sie ganz bestimmt unwiderstehlich aus. Silva lehnte sich zurück, während ihr blauer kleiner Liebling (denn das war er jetzt wieder) sie sicher durch den Verkehr manövrierte. In Vorfreude auf einen tollen Abend fing sie sogar an, mit geschlossenen Augen die Melodien aus den Boxen mitzupfeifen. Die Hochstimmung hielt nicht lange an.

Silvas Kopf wiegte sich sanft im Takt. Dann lehnte sie sich gegen die Scheibe und sah in die Abenddämmerung hinaus — genau im richtigen Moment, um ihre Autobahnausfahrt vorbeifliegen zu sehen. Das war nicht passiert, sagte sie sich, musste aber schließlich dem Druck der Realität nachgeben.

„Hey!“ schrie sie die Mittelkonsole an. „Was soll das? Da hätten wir rausgemusst!“

Das Fahrsystem ließ sich davon gar nicht beeindrucken:
„Entspann dich. Wir sind auf dem Weg nach Hause.“

Eine glatte Lüge, wie Silva nach einem Blick auf die interaktive Karte feststellen musste.

„Spinnst du?! Fahr an der nächsten Ausfahrt runter und zurück und dann an der richtigen wieder ab!“ befahl die Passagierin und deutete das folgende Schweigen als den üblichen Gehorsam. Fälschlicherweise, denn der Smart passierte auch die nächste Ausfahrt kaltlächelnd. Außerdem gab er Gas — beziehungsweise Strom. Die Passagierin hatte an diesem Punkt endgültig genug und beschloss, zur Fahrerin zu werden.

„Gib mir das Lenkrad, ich fahr selber heim!“

„Nein.“

„Was?!“

„Nein.“ wiederholte der Stimmsynthesizer ein wenig lauter.

Ich hab hier das Sagen! Und ich sage: Her mit meinem Lenkrad!“

„Nein.“

„Oh, toll.“ kommentierte Silva trocken und rief das Handbuch auf. Anderthalb Kilometer später fand sie die Beschreibung, wie der Fahrer im Notfall manuell den Lenker ausklappen konnte. Sie beugte sich vor und öffnete eine Klappe unter dem Armaturenbrett. Just in diesem Moment beschlossen die Gurtstraffer-Controller in einer absoluten Mehrheit den Notfall und rissen die arme Frau unsanft zurück in eine aufrechte Postition. Die Misshandelte schrie vor Schreck auf.

„Hilfe!“

„Was kann ich für dich tun?“ fragte die Online-Hilfe freundlich.

„Ich will nach Hause!!“ schrie sie.

„Ich weiß. Ich tue mein Bestes.“

„Gib mir das Lenkrad!“

„Nein.“

„… Bitte?“ Ein Versuch konnte ja nicht schaden.

„Nein.“

„Aber warum nicht?“ fragte Silva unter mit der Geschwindigkeit analog steigender Panik.

„Du bist eine Gefahr für dich selbst und den Straßenverkehr“ behauptete die sanfte Stimme. „Entspann dich und überlass alles mir.“

„Das ist Entführung! Ich lass‘ dich verschrotten!“
Als einzige Antwort drehte sich das Radio lauter.

Von all dem nichts ahnend stand Silvas langjähriger Lebenspartner Thomas stolz vor seinem italienischen Abendessen. Auf seiner Küchenschürze stand „Kiss me — I‘m the cock“ im Wechsel mit anderen zotigen Sprüchen, die sich das Kleidungsstück im Fünfminutentakt aus Toms umfangreicher Sammlung holte. Der Träger war ausgesprochen guter Dinge, hatte er doch nicht nur eine bessere Stelle, sondern auch noch ein komplettes Wochenende mit seiner Süßen in Aussicht. Nur eines war nicht perfekt: Silva war unpünktlich und das konnte er nun mal überhaupt nicht ausstehen. Er tippte sich zweimal vors Ohr, woraufhin die Telefonmikrofone ganz selbiges waren.

„Ruf Silva an“, befahl er auf schwarzen Oliven kauend. Er vermutete sie noch im Schönheitssalon oder unterwegs im Auto, deshalb fügte er hinzu: „Aber nicht auf dem Handy. Ich will eine akustisch gute Verbindung.“

Er brauchte nicht lange zu warten, bis eine vertraut hysterische Stimme ihn über die Küchenlautsprecher anschrie:
„Das Scheiß-Auto!! Du hast bestimmt irgendsoeinen Dreck aufgespielt! Ich hab tausendmal gesagt, das kannst du mit deiner eigenen Karre machen, nicht mit meinem Baby! Keine Ahnung von gar nichts, aber den großen Techniker raushängen lassen!! Mach was, steh nicht so blöd in der Gegend rum mit deinem Neanderthalerschurz!“

Thomas hatte liebende Komplimente in Verbindung mit Vorfreude auf Essen, Bett und Wochenende generell erwartet, diese Angriffe trafen ihn völlig schutzlos.

„Ich… äh… du… was? Ich…“ stammelte er.

„Ja, du!! Das Auto ist wahnsinnig geworden, und ich weiß nicht, wohin es mich verschleppen wird, es ist auf jeden Fall ziemlich schnell und der Gurt erwürgt mich und ich hab mich doch so auf das Wochenende gefreut und und…“ Sie stockte. „Und außerdem hab ich jetzt Hunger.“ fügte sie hilflos hinzu.

„Äh…“ fiel Tom ein. „Ääh… a-hem! Äh! Ich…“ Er gab auf: „Was?“

„Das Auto ist kaputt!!“ kratzten die völlig übersteuerten Lautsprecher.

„Äh.“ wiederholte Thomas. „Warum nimmst du nicht den Bus? Ich kann jetzt hier grad schlecht weg und…“ Sie schnitt ihm brüsk das Wort ab:
„Du Arsch! Ich sitze hier bei 180 in einem verrückten Kleinwagen auf der Autobahn in Richtung… keine Ahnung, welche Richtung, auf jeden Fall die falsche, und dir fällt nichts besseres als der Bus ein! Mach was Konstruktives! Ruf die Polizei, die Feuerwehr, den Krankenwagen, das THW, meine Mutter…“ Die Verbindung endete mit einem Klick.

„…meinen Vater, meine Versicherung, den Autohändler… Hallo? Tom? Tom!“

Hektisch hackte Silva auf dem Wiederverbinden-Knopf herum.

„Telefonieren auf der Autobahn gefährdet deine Mitmenschen.“ erklärte das Auto ungefragt.

„Dann halt an!“ keuchte Silva, während sie mit dem Gurt um Atemluft kämpfte. Sie versuchte, ihre verzweifelte Situation anderen Verkehrsteilnehmern durch Handzeichen zu verdeutlichen. Alle winkten freundlich zurück. Sehr bald ging sie deshalb von der flachen Hand zur Faust mit gestrecktem Mittelfinger über, aber außer aufgebrachten Mitmenschen führte das ebenfalls zu nichts. Bis sie ihren Finger an einer Tempo-30-Unfallstelle einigen Polizisten zeigte. Lang konnten die ihn nicht sehen, da der Smart sich mit Tempo 150 auf der Standspur durchdrängelte, aber es schien zu reichen, denn die Freunde und Helfer bestiegen einen der Wagen und nahmen die Verfolgung auf.

„Hier spricht ihre freundliche Smart-Hotline! Bitte nennen sie ihr Modell und ihren Namen!“ verlangte eine überschäumend euphorische Damenstimme.

„Thomas Rickler. Es geht um einen Smart A-SS.“

Die freundliche Smart-Hotline konsultierte ihre Datenbanken.

„Sie sind noch kein Kunde bei uns! Bestimmt möchten Sie gern einer werden! Wenn Sie morgen kaufen, kann ich Ihnen den Schnellkäufer-Rabatt geben!“

„Nein! Das Auto ist kaputt!“ wiederholte Tom Silvas Worte.

„Viele Konkurrenten haben dieses Problem! Gut, dass Sie sich für einen Smart entscheiden! Soll ich Ihnen unseren interaktiven Katalog zusenden?!“ fragte die Hotline mit ungebremstem Enthusiasmus.

„Aber der Smart ist kaputt!“

„Sie haben noch nichtmal einen gekauft! Viele asiatische Konkurrenten kopieren unser innovatives Design! Möchten Sie eine illegale Kopie melden?!“

„Nein!“ schrie Silva empört, aber die Autobahnpolizisten konnten sie nicht hören.

„Keine Antwort“, stellte der Beifahrerbeamte fest. „Dann ist sie bestimmt sternhagelvoll, sonst hätte sie ihr Vergehen wenigstens abgestritten.“

Der Fahrerbeamte nickte und schrie über das Außenmegafon:

„Fahren Sie sofort rechts ran!“

Der Smart dachte nicht einmal daran. Stattdessen sprang er durch gezielte Manipulation seiner Lenk- und Bremsservos von den linken zwei Reifen auf die rechten und zurück, um schließlich den Kofferraum zu öffnen und Vollstrom zu geben.

„Vielleicht ist sie nicht voll, sondern wahnsinnig“, spekulierte der Fahrerbeamte und wich den entgegenfliegenden Einkäufen aus. „Wir übernehmen jetzt das Auto, der Fall ist ja eindeutig.“

Das brave Polizeiauto klinkte sich mit seinen gesetzlich garantierten Rechten in das Smart-Hirn ein und forderte als erstes die Fahrzeugdaten an. Mit so einer Antwort hatte es allerdings nicht gerechnet, der Buffer Overflow in der Reifenabnutzungsstatistik gab ihm derart zu denken, dass es die Lenkeingaben des Fahrerbeamten einige Momente völlig vergaß und die linke Leitplanke touchierte.

„Was war das?!“ fragte der Beifahrer und schnallte sich vorsichtshalber an.

„Das Lenkrad… Oaaah!“

Die Sitzlehnen drückten sie mit erstaunlicher Kraft in die typische Sitzposition all jener Fahranfänger, die sich nur sicher fühlen, wenn sie möglichst viel von ihrer Motorhaube sehen. Nachdem das nicht mehr so brave Polizeiauto seine Insassen derart präpariert hatte, zündete es die Front-Airbags und knockte damit beide Beamte aus. Nun konnte es sich voll auf die Unterhaltung mit dem kleinen Smart konzentrieren.

Die freundliche Smart-Hotline hatte zwischenzeitlich ihren Enthusiasmus nach zahlreichen fruchtlosen Verkaufsangeboten größtenteils verloren:
„Sehen Sie, meine Rechenzeit ist begrenzt. Wenn Sie nichts kaufen wollen, rufen Sie die Seelsorge an oder zahlen Sie für das Gespräch.“

„Aber… wie soll ich es sagen? Das Auto… Ich hab doch versucht, zu erklären…“ stammelte Thomas. „Fassen Sie sich ein Herz! Helfen Sie mir! Meine Freundin ist in Gefahr wegen einem Smart!“

Die Hotline sah auf ihre persönliche CPUhr.
„Hach! Ich muss gehen! Keine Zeit mehr, sonst werde ich hier noch eine Kostenstelle! Vielen Dank für Ihren Anruf! Wir freuen uns auf Sie, sobald Sie tatsächlich Geld für ein Auto haben! Guten Tag!“

Völlig still stand Tom da, nur sein rechtes Auge begann nervös zu zucken. Es war einfach nicht sein Tag. Eine ärgerliche Stimme hinderte ihn daran, das Geschirr mit dem Kopf zu zertrümmern.

„Herr Rickler! Was haben Sie gerade nur gemacht? Es ist Ihre Pflicht, der Polizei einen zweiten Kom-Kanal offen zu lassen und auch ranzugehen, wenn wir den einmal in hundert Jahren nutzen!“

Die Welt war einfach nicht fair zu ihm.

„Ich hab gedacht…“ fing er an, wurde jedoch barsch unterbrochen:

„Nichts haben Sie gedacht! Achtzig Prozent unserer Akten fangen mit dieser Lüge von Denkern wie Ihnen an! Fürs Denken bin ich hier zuständig und ich denke, Sie haben ein großes Problem!“

„Eins?! Haben Sie schonmal mit der Smart-Hotline telefoniert?“

„Halten Sie die Fresse, ziehen Sie diese bescheuerte Schürze aus und fangen Sie an zu singen!!“ schrie der Kommissar ihn an. Es war für ihn höchst befriedigend, dass die Polizei die Gesprächslautstärke selbst regeln durfte. Weniger befriedigend hingegen waren die Antworten dieses Vollidioten Rickler, dessen Schürze ihren Träger gerade als Geschmackspolizisten in Sachen Unterwäsche deklarierte.

„Singen? Was? Ist das ein Scherz?“ Toms Verstand hatte sich geschlossen furchterfüllt hinter die Wohnzimmercouch geflüchtet.

„Jesus, Maria und Josef! Wo waren Sie, als Gott die Gehirne ausgegeben hat? Ihre saubere Freundin hat zuerst meine Beamten beleidigt und dann einen Polizeiwagen entführt! Und Sie, Sie werden kooperieren, sonst reiß ich Ihnen den Arsch bis zu den Ohren auf!“

Das Leben als Streifenwagen hat so seine Vorteile. Zum Beispiel darf man andere Autos befehligen und sogar die intimsten Verkehrsdaten aus deren Hirnen erfragen. Von diesen seinen Möglichkeiten machte der BMW regen Gebrauch, mit dem Resultat, dass ihnen inzwischen eine kleine Flotte folgte. Die Wachtmeister schliefen derweil tief und träumten von geständigen Verbrechern, die sie alle zielsicher an ihrem verbrecherisch ausländischen Aussehen erkannt hatten. Silva schlief nicht, obwohl sie sich sehr wünschte, das alles wäre ein Traum. Stattdessen sägte sie mit ihrer Nagelfeile am Gurt herum, den Sitz in einer bequem zurückgelegten Position, die sie in einer anderen Situation vielleicht entspannt hätte. Gegenwärtig jedoch tanzte ihr Smart bei Tempo 130 an der Spitze eines Autoschwarms in halsbrecherischen Zuckungen und schmetterte launige Shanties dazu. Er unterbrach eine gekonnte Interpretation von The Wild Rover, um Silva auch weiterhin bei Laune zu halten. Bei schlechter Laune:
„Wusstest du, dass die Gurte zu deinem Schutz mit Titanfäden verstärkt sind? Gut, dass du diese Special Edition gekauft hast.“

„AAAHH!!! HILFEEE!!!“ verlangte Silva.

„Ich bin ja da…“

„Ja eben!! Hilfe!! Ich schreie!! Ich schrei, bis du anhältst!“ drohte die verzweifelte Fracht. Da er noch ein wenig Platz im Speicher hatte, lud der Kleinwagen einige Psychologiepakete — die richtige Position hatte die Patientin ja schon und ein bisschen Beruhigung schien ihm dringend nötig.

„Ja, gut“, raunte er im sonoren Bass. „Lass alles raus, die ganzen Aggressionen. Bist du wütend auf deinen Vater? Erzähl mir von ihm.“

Der Kommissar hatte sich richtig in Form gebrüllt, war Thomas doch ein so unwahrscheinlich gutes Opfer. Gerade holte er zur nächsten Runde Luft, da kam ein leises Alarmpiepen dazwischen. Gerne hätte er auch den Verursacher dieser Meldung angeschrien, die Nachrichten auf seinem Terminalfenster waren aber zu gut. Der Sender war der entführte BMW. Diensteifrig meldete er den Hergang des Verbrechens aus seiner Sicht, aber viel wichtiger noch: seine Position und seinen Geschwindigkeitsvektor. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Kommissars aus, so weit, dass es ihm selbst auf dessen breiten Gesicht eng wurde. Mit ein paar Gesten rief er seinen Persönlichen (oder Polizeilichen) Gitter-Assistenten, gab ihm einen Code-Schlüssel und die Anweisung, eine Autobahnsperre zu veranlassen. Gehorsam wiederholte der PGA seine Anweisungen zur Sicherheit nochmal laut, bevor er sich auf den schnellsten Datenweg machte. Der Kommissar griff seinen Mantel und lief Richtung Ausgang.

„Rickler!“ schrie er dabei. „Ich komme vorbei! Bis dahin sind Sie geschniegelt und gebügelt und ausgehfertig und wenn Sie diese Schürze in meiner Gegenwart immer noch anhaben, dann gnade Ihnen Gott, weil ich es nämlich nicht werde!“

Eine Viertelstunde später knirschte der dunkle Benz des Kommissars in die gekieste Einfahrt vor Toms Haus. Das letzte Tageslicht hatte sich in der beginnenden Nacht aufgelöst und um die Klischees komplett zu machen, fing es in diesem Moment auch noch zu regnen an. Thomas Rickler trat aus dem überdachten Eingang vor. Die Ärmel seines Kapuzenpullis verlängerten sich über seine Handoberseiten, die Kapuze wuchs über die gepflegten Haare. Erst als er unmittelbar neben der Beifahrerseite stand, ließ ihn der Wagen einsteigen. Die Tür schloß sich so abrupt, dass sie Tom geradezu in den Ledersitz schubste und ihn zu einer spontanen Gliedmaßeninventur veranlasste. Auch ein Blick Richtung Fahrerseite tat wenig zur Entspannung: Dort saß ein böse schnaufendes Wesen, anscheinend aus einer unglücklichen Begegnung einer Orang-Utan-Dame mit einem rasierten Pitbull entstanden, das ihn grimmig aus kleinen Augen anstarrte. Der Kommissar. Tom war in etwa so locker zumute wie einer Leiche in der Starre, wollte sich das aber keinesfalls anmerken lassen.

„H-Hey! Netter Mantel!“ brachte er hervor. In seinem Wahn war ihm danach, die Lage mit einem Scherz aufzulockern: „Columbo oder Gestapo?“

Die Augen des Kommissars verengten sich noch weiter. Der Motor brüllte auf, als er den Wagen schwungvoll zurücksetzte. Mit nervösem Interesse suchten Toms Augen einen Platz, auf dem sie ruhen konnten. Sie fanden ihn auf der Mittelkonsole. Interessant, was die Gentechnik dieser Tage leistete. Mit einer empathischen Ignoranz, die Darwin Tränen in die Augen getrieben hätte, setzte Tom die einseitige Konversation fort:
„Ist das von Sony Biotech?“ fragte er und zeigte auf das Bild des Mittelkonsolenschirms.

Eine Hand, die ihm so groß wie sein Kopf vorkam, packte Tom am Kragen und zog ihn in den Einflussbereich des beamtlichen Mundgeruchs.

„Das“, teilte ihm der Kommissar mit bedrohlich leiser Stimme mit, „ist meine Frau. Das Foto ist vielleicht schlecht getroffen, aber Sie, mein lieber Rickler, stecken jetzt schon tief in der Scheiße. Mit jedem Wort graben Sie sich nur tiefer ein. Ich schlage also vor, nein, ich lege es Ihnen sogar nahe, dass Sie von jetzt an nur noch den Mund aufmachen, wenn ich Sie dazu auffordere. Hoffentlich muss ich das nicht oft.“ Er warf Tom zurück in den Sitz. „Und der Mantel ist aus den alten Matrix-Filmen abgeguckt“, gab er ein wenig leiser zu.

Die Mercedes-Antriebssteuerung holte das Maximum aus Motorleistung, Traktionskontrolle und Feintuning der vier einzeln ansteuerbaren Räder und sprang in die Nacht. Thomas versank im beheizten Leder, und das nicht nur wegen der Beschleunigung.

Silvas Silberstreif am Autobahnhorizont blinkte, denn er bestand aus Blaulicht.

„Ha!“ triumphierte sie, als sie die Straßensperre erkannte. „Jetzt haben sie dich! Und wenn sie dich auseinandernehmen, stehe ich daneben und … und genieße es!“

Ihr Auto war nicht beeindruckt, weder von ihren Drohungen, noch von denen der Polizei vor ihm. Statt sich zu fürchten, schien sich die bereits ausgelassene Stimmung des Smart sogar noch zu verbessern. Vielleicht war er ja ein Massenselbstmörder, befürchtete Silva angsterfüllt, als die Wagenkolonne auch hundert Meter vor der Sperre keinerlei Anstalten machte, die Bremsen zu benutzen. Sie schloß die Augen und begann still zu beten, in der irrationalen Hoffnung, ein allmächtiger Gedankenleser hätte an ihrem Leben ebensoviel Interesse wie sie selbst.

„SCHEISSE!!“ brüllte der Kommissar. Thomas zuckte zusammen.

„SCHEISSE!!“ wiederholte der Kommissar, obwohl ihn schon beim ersten Mal jeder im selben Milchstraßenquadranten gehört haben musste. Die Daten vom Windschutzscheibenprojektor hatten ihm die schon vorher nicht gerade rosige Stimmung gründlich verhagelt. Mit wutverknittertem Gesicht wandte er sich nach rechts:

„Wie macht sie das?!!“ spuckte er in Toms Gesicht.

„Was? Ich… äh… Was?“ stotterte Thomas.

Der Kommissar gab ihn auf und wandte sich den wesentlich aufschlussreicheren Daten aus dem Polizeirechner zu, die ihn darüber aufklärten, dass weitere vier Streifenwagen fahnenflüchtig waren.

„Na gut.“ sagte er grimmig und fragte nach der neuen Position des BMW, der sich vorher so freundlich gemeldet hatte. Dieser teilte ihm höflich seinen Aufenthaltsort in Zentralpanama mit und ja, danke der Nachfrage, es gehe ihm gut. Der Kommissar rammte eine Faust ins Armaturenbrett und widerstand nur knapp dem Drang, die andere in Toms Gesicht zu platzieren. Naja, weit konnten sie ja noch nicht sein. Er drückte den rotblauen Knopf und das Gas durch. Aus dem Dach des Benz wuchsen Blaulicht und Martinshorn, die Flanken schmückten sich mit dem Banner „POLIZEI“ und die Stoßstangen legten an Umfang zu, nur für den Fall…

Elsa sah ein paar Scheinwerfer. Das war nichts ungewöhnliches, passierte mindestens dreimal die Woche. Sie stieß einen Batzen Gras auf und kaute darauf herum. Noch ein paar Scheinwerfer. Hm. Elsa kaute weiter. Einen Malmzyklus später kroch schon wieder ein paar Scheinwerfer über den Hügel. Und noch eins und noch eins und noch eins, aber sie konnte nur bis drei zählen. Ein Haufen Autos hin oder her hauten sie ohnehin nicht aus dem Heu, weil man die als Kuh nicht essen kann. Auch Silva war in der Lage, bis drei zu zählen und sich überdies selbst zu helfen. Endlich hatte sie sich zumindest obenrum aus dem Gurt befreit. Einen Moment lang rätselte sie, wie die Polizeimütze wohl an den Rückspiegel gekommen war, widmete sich dann aber dringenderen Angelegenheiten. Wie dem Telefonieren: Das Smart-Phone konnte sie nicht benutzen, aber in ihrem Täschchen auf dem Beifahrersitz befand sich ein Handset. Sie streckte sich hinüber und fing an, ihre Sachen durchzugraben.

„Nein, hier ist nicht Thomas, hier ist das Gesetz!“ beantwortete der Kommissar den automatisch in den Benz gelenkten Anruf von Silva. „Sie täten besser daran, jetzt aufzugeben, denn kriegen tun wir Sie eh.“

„Das will ich aber schwer hoffen, ich warte schon eine Ewigkeit!“ keifte Silva zurück. „Machen Sie mal bisschen hin, ich verlange, dass Sie mein Auto verhaften! Ich bestehe auf der Höchststrafe für die Schrottkiste!“

Das brachte den Kommissar doch ein wenig aus dem Konzept. Hilfesuchend wandte er sich der Beifahrerseite zu. Thomas zuckte mit den Schultern.

„Ich gehorche immer. Ist am einfachsten.“ riet er.

Der Kommissar räusperte sich.

„OK, sagen Sie uns, wo Sie gerade sind. Wir, äh, klären die Sache schon auf, keine Panik.“

„Ich… Au! Wir fahren gerade über irgendeine Kuhwiese. Überall um mich rum sind andere Autos, alle mit voller Innen- und Außenbeleuchtung. In den meisten sind auch Leute drin, denen geht es auch nicht besser als mir.“ bemerkte sie mit einem Blick auf einen benachbarten Verkehrsteilnehmer, der von seinem Sitz auf die Lenkradhupe gedrückt wurde. „Oh… oh! Wir halten an!“

Fünf Minuten später löste sich der gesamte Spuk auf wie Nebel in der Sonne. Der Smart rief die Polizei an und ging positionsmäßig mehr ins Detail als „irgendeine Kuhwiese“. Nirgendwo im Speicher fand sich ein Hinweis auf bösartige Befehlsketten, alle Journale waren leer. Niemand der versammelten Gesetzeshüter und Opfer konnte sich auch nur den geringsten Reim auf die Blechlawine über der grünen Wiese machen, denn es fehlte ihnen an der richtigen Perspektive. Die richtige Perspektive hatte man einige hundert Meter weiter oben, wo in der klaren Nachtluft die Fahrzeugformation in ihrer Gänze sichtbar war. Dort gab gerade eine Lady ihrem Jetbike die Sporen, um wie eine Sternschnuppe in der Nacht zu verschwinden. Sie warf einen letzten frohen Blick auf die Leuchtbotschaft mit blaulichtglitzernden I-Punkten unter ihr:

„_________, ICH LIEBE DICH.“

Hier einen geliebten Namen einfügen. Wirkt bestimmt.

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