Angst vor dem Handy

Mobilfunkstrahlung, ne, die soll ja so gefährlich sein. Lange habe ich mich gesträubt, um mich schließlich doch breitschlagen zu lassen. Das ist gefährlich an der Handy-Strahlung:

In der unendlichen Diskussion über eventuelle schädliche Effekte von Mobilfunkstrahlung gab es lange Zeit einen beliebten Schlusssatz: „Es gibt eh noch keine Langzeitstudien darüber.“ Von 2000 bis 2007 lief jedoch eine großangelegte, von der World Health Organzation WHO koordinierte Studie zu diesem Thema, und zusammenfassende Bröckchen davon wurden 2008 schon vorab veröffentlicht. Bis jetzt haben die Befragungen an etwa 6000 Betroffenen von Hirntumoren und über 1000 Betroffenen von Akustikus-Neurinomen in den Ländern Australien, Kanada, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Neuseeland, Norwegen, Schweden und USA keine schädigende Wirkung nachweisen können. Die Endergebnisse der Studie, ihre Schlussfolgerungen und gesammelten Publikationen werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ist die Diskussion dann beendet? Nein. Sie flammt dann erst richtig wieder auf.

Zunächst einmal ist die Befragung als Methode der Datengewinnung denkbar weich, ja: unzuverlässig. Man sehe sich hierzu nur mal Zeugenaussagen vor Gericht oder zu einem Verkehrsunfall an. Zur Interphone-Studie wurden die etwa 7000 Testpersonen plus dieselbe Anzahl gesunder Personen als Kontrollgruppe in einem computergestützten persönlichen Interview zu ihrer Mobilfunknutzung befragt. An welcher Seite halten Sie das Telefon? Wie sieht der Arbeitsplatz aus? Welche medizinische Vorgeschichte existiert? Sind Sie Raucher? Und so weiter. Zu den generellen Schwierigkeiten einer Befragung kommt noch der Zeitraum, den das Interview abdecken will. Wer kann sich schon korrekt en détail erinnern, wie er vor zehn Jahren telefonierte? Niemand. Erinnerungen sind stark emotional durchsetzt und von gegenwärtigem (Wunsch-)Denken beeinflusst. Menschen sind nun mal keine Datenakkumulationsroboter. Ein Tumor auf der linken Seite beeinflusst daher ebenfalls die Antworten. Klar hab ich immer links telefoniert, links ist doch der Tumor, frag nicht so blöd.

Schon diese paar Punkte zeigen, dass Nacharbeit nötig ist. Die Ergebnisse aus Interphone werden wahrscheinlich keine großartigen Neuigkeiten enthalten, sie könnten aber durchaus Hinweise darauf liefern, was Forscher in der Folge untersuchen sollten. Die Fraktion, die Mobilfunk als irrelevanten Beitrag zu den gesammelten Umwelteinflüssen auf den Menschen ansieht, wird sagen, dass man sich das Geld einfach sparen sollte, weil bis jetzt noch keine wirklich haltbaren Hinweise auf eine schädigende Wirkung vorliegen. Die Mobilfunkgegner könnten genau dasselbe sagen, weil sie gerne ebenso pauschal wie vage anführen: „In unzähligen Studien haben führende Wissenschaftler die schädigende Wirkung von Handys schon lange belegt“. Beide Standpunkte sind ignorant. Es gibt derzeit keine konkreten Hinweise darauf, dass mobile Telefonie die Nutzer schädigt. Es gibt jedoch auch keine Belege dafür, dass sie es über den Verlauf eines Telefoniererlebens nicht tut. Diese Belege von den Herstellern der Geräte zu fordern, ist beliebt, aber unfair. Einen solchen Nulleffektbeweis gibt es in der Medizin oder der Biologie nicht. Ebensogut könnte man Nokia auffordern, jetzt endlich mal die Existenz Gottes endgültig und zweifelsfrei zu klären. Wie in der Religion gibt es im Mobilfunk den letztgültigen Beweis nicht. Es gibt nur Studien, Tests und daraus resultierende Wahrscheinlichkeiten.

Bleiben wir beim Vergleich mit der Religion. Wie dort dreht sich auch beim Mobilfunk alles um die Gefühlswelt des Menschen. Vielen Leuten geht es schlecht, wenn in ihrer Nähe ein neuer Mast mit Funk-Transpondern der verschiedenen Netzanbieter auftaucht. Ich erinnere mich an einen konkreten Fall, der in meiner damaligen Redaktion auflief. Gegen einen neuen Mast formierte sich schnell eine Bürgerbewegung, die mit vielen Fällen von Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Nervosität und mehr belegten, wie sich dieser auf ihren Gesundheitszustand auswirkte. Es wirkte bedenklich, fast, als hätte jemand Plutonium dort abgekippt, als würden uns dort in kürzester Zeit die Leser wegsterben. Wir riefen beim Betreiber an, um ihn darauf hinzuweisen, dass er in der Innenstadt nicht mit fünf Megawatt an Gammastrahlung rumballern darf. „Ja, wir kriegen dieselben Beschwerden“, antwortete eine genervte Stimme. „Wie soll das erst werden, wenn wir das Ding anschalten? Wir haben noch nichtmal die Genehmigung.“

Das Phänomen „Elektrosensibilität“ erreichte kurz nach dem Jahrtausendwechsel solche Höhen, dass die Unis in Bielefeld und Mainz, das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg sowie die Beraterfirma TNS Healthcare München von 2003 bis 2006 die Effekte der Masten auf Schlaf und Lebensqualität untersuchten. Im Fazit heißt es: „Die vorliegenden Ergebnisse sprechen gegen eine Beeinflussung der subjektiven und objektiven Schlafqualität durch elektromagnetische Felder von Mobilfunkbasisstationen auf physiologischer Ebene. Es konnten jedoch eindeutige Effekte allein durch die Existenz einer Mobilfunkbasisstation verbunden mit der Besorgnis über mögliche gesundheitliche Risiken auf die Schlafqualität nachgewiesen werden. Das vorliegende Ergebnis zeigt, dass nicht die Exposition an sich die Schlafqualität negativ beeinflusst, sondern Bedenken wegen der möglichen gesundheitlichen Folgen, und zwar auch, wenn die Anlage nicht in Betrieb ist.“ Durchaus nachvollziehbar. Wer möchte schon einen solchen Mast vor seinem Schlafzimmer sehen, von dem doch alle sagen, dass er schädlich ist?

Die Elektrosensiblität an sich ist ebenfalls weltweit gut untersucht, eine der neuesten Studien kommt 2009 von der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Sie kommt zum selben Ergebnis wie alle diese Studien: Die Elektrosensiblen reagieren auf den Test mit ihren Symptomen, zum Beispiel Kopfschmerzen. Diese Symptome sind jedoch unabhängig davon, ob gerade ein Feld anliegt. Oft schneiden elektrosensible Personen im Vergleich zur Kontrollgruppe sogar schlechter ab, da sie tendenziell öfter vom Vorhandensein eines Feldes ausgehen und darauf mit ihren typischen Symptomen wie Kopfschmerzen reagieren. Ob reell ein elektromagnetisches Feld eines Haushaltsgeräts oder eines Mobiltelefons auf sie leuchtet, können sie nicht erkennen. Häme ist hier jedoch unangebracht. Diese Leute sind Menschen, die leiden und verdienen daher dieselbe Rücksicht, wie sie anderen Leidenden zuteil wird. Ein preussisches „reiß dich halt zusammen!“ ist jedenfalls wenig zielführend.

Vielleicht hilft ein wenig Verständnis des Elektromagnetismus‘ an sich. Wenn von solchen Feldern die Rede ist, denken die meisten an elektrische Geräte. In Wirklichkeit ist elektromagnetische Strahlung alltäglich, natürlich, allgegenwärtig. Das elektromagnetische Wellenspektrum reicht von Radiowellen über sichtbares Licht bis hin zu Röntgen- und Gammastrahlen. Was die im Sprachgebrauch so deutlich getrennten Arten von Strahlung unterscheidet, ist schlicht ihre Wellenlänge. Einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum nimmt der Mensch direkt wahr, das sichtbare Licht. Infrarot (langwelliger als der sichtbare Bereich) können wir schon nicht mehr sehen, wohl aber bei hoher Intensität auf der Haut als Wärme spüren. Den UV-Bereich (kurzwelliger) sehen wir ebenfalls nicht, wir spüren jedoch eine Überdosis in Form des Sonnenbrands. Der Sonnenbrand ist eine echte, nachweislich schädliche Strahlenverbrennung, vor der allerdings dennoch kaum jemand so viel Angst hat wie vor einem Telefon. Sogar der menschliche Körper strahlt, wie alles Leben, unter anderem im Terahertz-Bereich. Viele dieser Frequenzen nehmen die Nerven ab einer bestimmten Intensität mittelbar als Wärme wahr. Das gilt auch für den Mikrowellenbereich, den Handys nutzen. Mikrowellen erhitzen zum Beispiel Essen oder kranke Körperteile in Wärmebehandlungen. Die Forschung kennt diese Effekte, und die aktuellen Grenzwerte für Mobiltelefonie fußen auf diesen thermischen Effekten, weil sie ab einer bestimmten Größenordnung schädlich werden.

Das entspricht zwar dem Wissensstand, doch bleibt dabei zunächst offen, welche elektromagnetischen Einflüsse die Telefoniererei außerdem im Körper haben könnte. Mobilfunkgegner argumentieren gern, die Art, wie GSM- oder DECT-Telefone Gespräche oder andere Daten übertragen, sei durch die Art ihrer Übermittlung besonders gefährlich. Sie verwenden dabei Begriffe wie „gepulste Strahlung“ oder argumentieren, GSM-Strahlung sei deshalb schädlicher, weil sie „Informationen“ enthalte, die irgendwas „Feinstoffliches“ im Körper zerstören. Es ist prinzipiell gut, möglichst viele Teilaspekte und emergente Phänomene zu untersuchen, doch bewegt sich das Argumentationsniveau meistens auf dem von schwarzen Löchern im LHC. Ja: das Handy ist eine zusätzliche moderne Strahlenquelle. Nein, der menschliche Körper ist nicht dafür bekannt, auf solche Felder besonders empfindlich zu reagieren. Dieser salzige Sack voll Elektrochemie ist im Gegenteil dafür bekannt, in höchstem Maße EMV-störsicher zu sein. Ein Reporter der Seite Howstuffworks.com hat für einen Test ein altes Auto durch einen auf einem US-Luftwaffenstützpunkt künstlich erzeugten elektromagnetischen Puls gefahren. Dieser Puls ist von einer Stärke, wie er bei einer in der Atmosphäre gezündeten Atombombe auftritt. Er zerstört in Sekundenbruchteilen alle elektronischen Schaltkreise. Der Wagen blieb sofort stehen, tot, aus. Der Fahrer spürte noch nichtmal etwas.

Trotzdem: Weitere Forschungen und Erkenntnisse könnten durchaus noch relevante Effekte zutage fördern, an die wir aktuell noch gar nicht denken. Das Bundesamt für Strahlenschutz (www.bfs.de) empfiehlt daher verunsicherten Handy-Nutzern den konservativen Umgang mit den Geräten: Festnetz bevorzugen, kurze Handy-Gespräche führen, eventuell gar Headsets verwenden, weil die Feldstärke mit der Entfernung überproportional sehr stark abnimmt. Am besten telefoniert man unter freiem Himmel in Sichtweite zum Mobilfunkmasten, also bei optimalem Empfang. Handys regeln die Sendeleistung nämlich immer auf das für die Verbindung niedrigstmögliche Niveau herunter, um Strom zu sparen. In Autos, Wohnungen, Kellern, Bussen und so weiter muss das Telefon die Sendeleistung stark hochfahren, um eine stabile Verbindung zu halten. Schirmende Aufkleber, wie sie mancherorts zum Schutz angepriesen werden, sind also, wenn sie überhaupt eine Wirkung haben, kontraproduktiv, da sie meistens zu einer Erhöhung der Sendeleistung direkt am Ohr führen. Die maximale Sendeleistung Ihres Handys finden Sie in der Gebrauchsanleitung (der sogenannte SAR-Wert für die spezifische Absorptionsrate), eine SAR-Übersicht bietet das BFS an. Der beste Strahlenschutz ist und bleibt jedoch Abschalten. Es ist paradox, aber man kann die meisten Mobilfunkgegner auf dem Handy gut erreichen. Eine sinnvolle Diskussion über unseren Umgang mit dem Mobiltelefon muss daher vor allem die Frage enthalten, wie viel Abdeckung und Erreichbarkeit wir uns leisten wollen. Das derzeitige Level haben sich nicht die Betreiber ausgedacht, sondern es entstand durch eine Nachfrage, die Empfang in jedem Keller auf dem platten Land verlangt. Das geht eben nicht ohne einen Wald von Antennen.

Handys stehen immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik, obwohl viele Techniken aus dem Atomzeitalter in weit höherem Ausmaß strahlen. Direkt vor meinem Fenster steht ein Fernsehturm. Jeder Radiosender dort strahlt mit einer Sendeleistung von bis zu 100.000 Watt. Ein Handymast sendet in der Summe mit einigen hundert Watt. Früher gab es auch Fernsehsender, die mit einem Megawatt strahlten. Oder Atombomben mit ihrem elektromagnetischen Puls. Oder auch nur der ganz normale Energietransport über hohe Wechselspannungen. Diese Kandidaten übertreffen in der Feldstärke ihre Nachfahren des Informationszeitalters bei Weitem und sollten daher in Forschung wie öffentlicher Diskussion mindestens gleichberechtigt Thema sein. Das Schädlichste an aller Alltagsstrahlung jedoch ist nachweislich die Angst davor.

Prolog, äh, Epilog mein ich:
Dieser Text entstand für die Welt, deren Maßgabe es ist, dass „jede Hausfrau“ jeden Text verstehen können muss. Er bleibt daher an der Oberfläche der Diskussion. Wer sich für eine weitergehende Behandlung des Themas interessiert, sollte sich die Seite von Ralf Dieter Wölfle ansehen, auf der er auf lobenswert nüchterne Art versucht, neutral Informationen zu sammeln:

Elektrosmoginfo.de

Kommentare:

ältere
  • Chris meinte am 3. November 2010 um 21:12:
  • Handystrahlung meinte am 10. September 2011 um 21:14:

    Der Einfluß der Mobilfunkindustrie zeigt sich besonders bei den Studien zu den gesundheitlichen Auswirkungen.

    Die Finanzierung von Studien beeinflußt deren Ergebnis:

    „Das eigentlich interessante Ergebnis von Lais Untersuchung aber ist: Rund vier von fünf Studien, die elektromagnetische Strahlung als unbedenklich einstuften, waren von der Industrie finanziert.“

    „Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern kam in einer Analyse zu demselben Ergebnis wie Lai: Arbeiten, an deren Finanzierung die Industrie nicht beteiligt war, fanden zehnmal häufiger statistisch signifikante Effekte der Mobilfunkstrahlung als Untersuchungen, die im Auftrag der Industrie durchgeführt worden waren.“

    Quelle: Die Wochenzeitung WOZ, 11.03.2010, http://www.woz.ch/artikel/rss/19045.html

    Mehr Informationen zum Thema Mobilfunk und Gesundheit – Gesundheitsrisiken von Handy, Handystrahlung, Mobilfunksendern, GSM, UMTS, LTE, TETRA, DECT, WLAN

    http://www.mobilfunkstudien.de

    http://www.facebook.com/Mobilfunk.und.Gesundheit

    • Clemens Gleich meinte am 10. September 2011 um 22:16:

      Hinweis für die Links des Herren: Darunter liegen Artikel zum Beispiel zu einem Professor, der (wie immer) alles revolutionieren will, aber (ebenfalls wie immer) nicht sagen kann, wie, und der sich außerdem mit „kostenloser Telepathie“ beschäftigt. Die Website des Posters ist tendenziös, ich empfehle weiterhin die Website unter dem Artikel, weil sie Studien in beide Richtungen berücksichtigt.

      Eine Aussage stimmt: Nämlich, dass Firmen Forschung finanzieren und damit Ergebnisse beeinflussen. Das ist heute der (vielleicht bedauernswerte) Normalzustand auf jedem Gebiet. Das ändert nichts an der Tatsache, dass keine Studie bis jetzt stichhaltig einen Zusammenhang von üblichem Funkverkehr mit Krankheitsbildern herstellt, der über die im Artikel geschilderten Psychosomatismen hinausgeht. Das kann durchaus noch kommen, aber dann höchstwahrscheinlich von guten Forschern statt Spinnern. Und anders herum ist ein Beweis eines Nicht-Effekts unmöglich. Ich gebe zum Beispiel jedem einen Ferrari, der mir empirisch nachweisen kann, dass es das Heilige Fliegende Spaghettimonster nicht gibt.

      Ich habe den Artikel damals widerwillig geschrieben, weil ich den Handy-Panikern eine Linderung geben wollte. Solche Angst-Aggregatoren wie dieser Poster waren der Grund. Sie machen nichts konstruktiv besser. Sie machen nur mehr Angst. Sie sind der Feind.

  • 3-plus-1 meinte am 10. September 2013 um 14:42:

    Was mir hier fehlt ist die Todesratenbetrachtung … und zwar im Zusammenhang mit Herinfarkten, Schlaganfällen, Autounfällen und ähnlichem.

    Seit fast jeder ein Smartphone oder Handy trägt, kann ein Notruf viel schneller abgesetzt werden und die Notrufzentrale hat auch sofort den Standort des Notfalls. Bei Fällen, wo es um Minuten geht, ist der Krankentransportwagen also eher vor Ort.

    Wie sieht die „Gefahr von Handystrahlen“ in der Betrachtung also aus, wenn wir die Zeit bis vor GSM (1992) zurück drehen würden. Mit wie vielen zusätzlichen Toten müssten wir ohne Handies und ihre Masten rechnen, wenn wir das täten?

    Einfach mal den Spieß umdrehen. Dann sieht das Ergebnis auch ganz interessant aus und die Esotheriker kommen in Erklärungsnöte.

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