Grüßen und Posen

Das bin ich, weil es keine Bilder aus dem Osten gibt. Kameras funktionieren dort nämlich nicht. (Illustration: Georg Zitzmann)

Mein Vater sagte immer dummes Zeug wie „man ist so alt wie man sich fühlt“, und in meinem gefühlt immensen Alter hat man gelegentlich (Frühjahr) bis andauernd (November) das Gefühl, schon alles gesehen zu haben. Der Mond geht immer rundherum, und manchmal fällt mein Schatten drauf, die Sterne gehen an und aus, die Leute leben, lieben, gebären, sterben und gehen sich und mir dazwischen unglaublich auf die Nerven. Und Deutschland, ne, da kenn ich mich eh aus. Allet schon jesehn.

Das ist natürlich eine sehr makroskopische Betrachtung, ähnlich „Ich weiß, wo ich im Universum bin. Nämlich drin.“ In Wirklichkeit kenne ich mich in Deutschland überhaupt nicht aus, was mir ein einfacher Wechsel der Werkzeuge vor Augen führte: Wenn die Kawa ZX-10 R ein Teleskop ist, um die Entfernungen zwischen den Sternen zu vermessen, dann ist die Aprilia Shiver ein Mikroskop für die feinsten Gefäße des Verkehrskreislaufs Deutschlands. Eigentlich war Eile geboten, schnell am Sachsenring sein für unser Renntraining, also versuchte ich den Weg nach Hohenstein-Ernstthal zunächst auf der Autobahn. Dort läuft die Shiver in der Gegend von 220 gegen ein Gummiband, denn sie macht bei ca. 10.000/min selber ihre Drosselklappen etwas bei. Und als Fahrer sitzt man drauf mit der nagenden Gewissheit, dass man gerade versucht, mit dem Mikroskop nach Betelgeuse zu gucken, um mal bei obiger Metaphorik zu bleiben.

Im Thüringer Wald, Oberhof, beim Tanken oben auf dem Berg gab ich den Versuch „Shiver-Bahn“ auf. Die Tanketappen der Shiver waren bis dahin fast gleich denen der Zehner, nur dass die Shiver dabei nicht vom Fleck kommt. Auf der Landstraße hingegen passt die Shiver mir ergonomisch näherungsweise perfekt, und den Kurven ebenfalls. Die neuen Reifen wollte ich eh nicht gleich eckig fahren. Die Erstbereifung Dunlop Qualifier hielt gut 4800 km, dann kam der Metzeler Z6 Interact drauf. Ohne direkten Vergleich behaupte ich, dass er besser ist als der alte Z6. Vielleicht ist es auch einfach das Motorrad. Beispiel: Die kalten, ungefahrenen Reifen einmal die vier, fünf Kilometer zu mir runter gerollt, gesamte Lauffläche benutzt. Ja, ja, das ist bei euch Usus, aber ich fange sowas normalerweise immer recht zögerlich an und lass mir Zeit. Die Shiver gibt einem das seltene, vielleicht gefährliche Gefühl, alles jederzeit im Griff zu haben. Derzeit kenne ich kaum ein Krad, das einfacher schnell zu fahren ist. Es ist wie eine kleinere, günstigere Version der KTM Superduke ohne Lenkerflattern oder WP-Fahrwerk (Gabel trampelt bissi).

Fakten, Fakten, Fakten… Wo war ich eigentlich? Genau, im Thüringer Wald. Den kannte ich zum Beispiel so noch nicht. Schöne, kleine, streckenweise sogar gut asphaltierte Sträßchen völlig ohne Verkehr, schon gar kein Einspurverkehr. Außer vereinzelten Weltreisenden auf breitärschigen, weil vollbekofferten BMW GS traf ich dort keine Kradisten und obwohl es gegen die Rush Hour ging, traf ich auch kaum Autos. Das Essen ist gut, denn die Kultur nebst Dialekt ist eher fränkisch denn dunkeldeutsch und die Zivilisation liegt trotz der subjektiven Abgeschiedenheit immer in Schlagweite: zurück nach Bayern/Oberfranken ist’s bei der richtigen Routenplanung nie weit.

Von dort weiter kannte ich mich nun wirklich überhaupt nicht mehr aus. Es wurde unglaublich ruhig, weit, leer und erinnerte mich an Schwedisch-Lappland, wobei in Lappland die Straßen ein gutes Stück besser sind. Von einem schlaglochübersäten asphaltieren Trampelpfad ging es auf einmal ab auf eine gepflasterte Straße. Hier gab es keine Schlaglöcher, denn die hatte man sorgsam mit Sand und Kies gefüllt. Wahrscheinlich datiert die gesamte Konstruktion bis zurück in die Römerzeit. Die Römer waren damals doch überall – vielleicht sogar hier. Mitten auf der Hauptstraße des Dorfes baute ein apathischer Ureinwohner eine Art Sandkasten. Ob er endlich das „große Schlagloch aus dem Krieg“ füllte oder eine dekadente Spielgelegenheit für seine Nachkommen konstruierte, weiß ich nicht. Zunächst wollte ich mit der Shiver die Durchquerung der Sandpassage wagen, erinnerte mich dann allerdings an Helmut Wichts Polentour, auf der er seine Honda Varadero in so ein Sandgrab rammte. Obwohl die Shiver deutlich geländegängiger ist als Helmuts rollende Gebirgswand, suchte ich sicherheitshalber eine alternative Route. Ankommen statt Experimente.

Die Alternative führte mich durch eine Gegend voller kleiner Seen, zwischen denen etwas mäanderte, was ich nur in Ermangelung eines besseren Wortes „Straße“ nenne. Es hatte etwa die Breite eines kleinen Esstischs und wurde von jemand erbaut, dessen Begriff von „hoher Geschwindigkeit“ mit einem Pferdekarren als Spitze seiner Skala endet. Doch auch die später wieder auftretenden größeren Straßen waren sehr mit Vorsicht zu genießen: Wer hier auf Gefühl fährt („die Art Kurve kenn ick!“), kommt nicht weit. Seltsamste Radienverschiebungen bestimmen das Straßenbild, die weder mit Landschaft noch mit Logik etwas zu tun haben. Um das zu verstehen, sollte man wissen, dass es in diesem Teil der Erde bis vor Kurzem noch gar keinen Straßenverkehr im modernen Sinne gab. Es gab auch keine Autos. Noch vor zwei Jahrzehnten hingen die Eingeborenen hier vielmehr einer Art Cargo-Kult an, in der sie Autoattrappen aus Baumwollpappe bauten und sich hineinsetzten. Dafür standen sie sogar Schlange.

Irgendwann erbarmten sich die Götter, erhörten sie und brachten ihnen den VW Passat. Wie so oft in der Geschichte machte das die Kultisten jedoch nicht dauerhaft glücklich. Missmutig sitzen sie in ihren Gottesgeschenken und suchen Schlangen, an denen sie sich anstellen können, um ihr Lebensleiden einen Augenblick zu lindern. In der Meditation des Schlangestehens findet man hier seine zeitweise Erlösung. An einer Tankstelle konnte ich dieses Verhalten eindrücklich beobachten: Im Lädchen standen zwei Menschen bei den Süßigkeiten. Ein Dritter kam vom Tanken herein und stellte sich dahinter. Dann kam ein Vierter und tat dasselbe. Dann wandte ich mich vom Zeitschriftenregal ab und ging vor an die leere Kasse zum Bezahlen. Derart als Außenseiter enttarnt, erntete ich wütende Blicke. Die Schlange jedoch blieb bis zu meiner Abfahrt bestehen.

Vor diesem Hintergrund ist auch klar, warum die Bevölkerung hier es so gar nicht sortiert bekommt, wenn sich der Kradist wie andernorts üblich einfach vorne an der Ampel anstellt. Er lästert damit eine tief verwurzelte religiöse Tradition. Zuhause mag das vorn anstellen eine Lappalie sein, hier ist es blanke Blasphemie. Es provoziert eine ähnliche Reaktion wie ein Raucher, der sich aus einer Koranseite ein Kippchen dreht, diese öffentlich anzündet und dem Imam seinen Rauch ins Gesicht bläst: Der ohnehin angespannte Kopf des derart Geschmähten wird rot und in seiner Impotenz versucht der Fahrer des vormals ersten Wagens, mit quietschenden Reifen und Vollgas seinen heiligen Anspruch durchzusetzen. Da er jedoch einen Passat fährt, merkt der Kradist das meist erst, wenn ihm das Auto nach einem halben Kilometer innerorts am Schutzblech hängt. Der Ostmensch will mit seinem Verhalten wahrscheinlich verdeutlichen, dass man einen großen Fehler gemacht hat. Am liebsten würde er den Finger heben und zum Vortrag ansetzen. Da die Sprache hier sich bisher jedoch jeglicher Forschung widersetzt, sollte man einfach weiterfahren. So oder so ist das Leben in dieser Gegend elend. Ein Plakat wirbt mit „Zweizimmerwohnung mit 60 qm, 240 Euro“, doch es sieht aus, als stehe es dort schon seit Jahren, obwohl man für diesen Preis in Stuttgart nichtmal einen Arschtritt bekäme. Eine Batterie bunt bemalter Trabi-Garagen aus der Kultistenzeit rostet vor sich hin. Offenbar passen dort keine VW Passat hinein.

Dann endlich kam Posen. Nein, ich habe keine Ahnung, wo das ist. Google Maps kennt es ebenfalls nicht. Ich glaube, es ist irgendwo in Sachsen. Vielleicht auch Thüringen. Auf jeden Fall im Osten. Erst hier und nur hier vermisste ich unsere Kawa-Zehner mit ihren grünen Bremsschläuchen, der Prollscheibe und den goldenen Rasten. Sie hätte mich in Posen sofort heimisch gemacht. Die Shiver wurde immerhin geduldet. Und hier hatte ich einen Moment der interkulturellen Kommunikation über eine scheinbar unüberwindliche Sprachbarriere hinweg: Ein kleines Mädchen stand am Straßenrand an der Hand ihrer Mutter. Sie sah mich an, durch mein blickdicht schwarzes Visier in meine Augen, in mein Herz. Dann lächelte sie und winkte und ich spiegelte sie. Kindlich-naive, reine Freude ob eines seltsamen, blubbernden Gefährts mit einem zebrafarbigen, behelmten Humanoiden drauf. Ab hier fing ich an, Motorradfahrer zu grüßen, denn wenn sie auch nur einen Teil der Freude des kleinen Mädchens empfinden, wenn sie die Shiver mit einem Gleichgesinnten im Sattel sehen, dann lohnt es sich, derart billig Freude auf der Welt zu verteilen. In dieser Gegend kannte man zwar das Grüßen nicht, aber vielleicht freut sich jemand daheim.

Am Sachsenring angekommen, diskutierte ich angeregt meine Fahrteindrücke mit Andy Glänzel, unserem Streckenfotografen. Er stimmte mir in allen Punkten zu, offenbar kannte er die Gegend selber gut. Dergestalt verstanden ließ ich mich dazu verleiten, in arroganter Touristenmanier den gesamten Osten flächendeckend lästernd zu bombardieren, weil mich einige der Bewohner so verärgert hatten. Erst, als ich lange nach dem Essen am offenen Fenster im Bett lag, fiel mir ein, dass Andy aus Kuhschnappel kommt. In diesem Fall weiß ich ganz genau, wo das ist, nämlich direkt an der A4 unweit des Sachsenrings. Andy ist also trotz seiner mittlerweile weltmännischen Manieren früher mal einer von ihnen gewesen und ich damit Anwärter auf den Award im Fettnäpfchentieftauchen. Verdammt.

Immerhin hatte es sich gelohnt, mit der Shiver eine Gewebeprobe Deutschlands in hoher Vergrößerung zu analysieren. Es hatte sich sogar so gelohnt, dass ich den gesamten Rückweg über solche Strecken routen ließ. Von den großen Straßen ließ ich den TomTom Rider in immer weiteren Iterationen immer abwegigere Alternativen berechnen, bis ich auf grasbüscheldurchsetzten Betonplattenwegen den letzten Trabis begegnete. Auf einmal stach mich eine Wespe in den Hals. Bestimmt eine Sächsische (Dolichovespula saxonica). Die Rache des Ostens…

Kommentare:

ältere
  • Volker Graneß meinte am 12. September 2012 um 9:36:

    Sehr schön geschrieben, hab einiges wiedererkannt, was ich am letzten WE dort erlebt habe. Weiter so.

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