Die Wahrheit in Worten

Es gibt vor allem im guten alten Usenet eine beliebte Kunstform für Kleingeister: den Spellflame. Hierbei nutzt der Kleingeist die Möglichkeit, sich über einen vorhandenen Rechtschreibfehler genüsslich auszulassen, was er zum Beispiel dazu verwenden kann, vom eigentlichen Diskussionsgegenstand abzulenken oder zumindest den Diskussionsgegner als Idioten hinzustellen. Hätte Schopenhauer das Usenet noch erlebt, er hätte den Spellflame sicherlich in seine Kunstgriffe zum Recht behalten aufgenommen.

In der Welt normaler Menschen jedoch ist Sprache anders als Mathematik, sie wandelt sich ständig im Wind von Kontext, Zeit oder Mode. „Makes sense“, sagt der Engländer so oft im Fernsehen, dass der Deutsche heute sagt „das macht Sinn“ statt wie früher „das ergibt einen Sinn“. „Sinn machen“ ist streng genommen falsch. Aber wir wissen schon, was wir meinen. Oder diese grauenhaften Anführungszeichen, mit denen sich Leuten von Dingen, die sie geschrieben hatten, verschreckt von der eigenen Courage unmittelbar wieder distanzieren wollten. Die waren ja „wunderbar“. Und falsch. Heute jedoch sind die greuslichen Distanzstücke sogar per Duden rehabilitiert als „ironische Hervorhebung“, und dasselbe gilt für den damaligen „Deppenapostroph“: Der ist im Duden zumindest als Alternative zähneknirschend geduldet. „Willi‘s Würstchenbude“ ist daher nicht nur richtig, es ist sogar das Anwendungsbeispiel des Dudens. In ein paar Dutzend Jahren wird da‘s die allein seligmachende Richtig‘schreibung de‘s Duden‘s sein!

Mit Latein wäre das nicht passiert! Anders als Latein lebt die deutsche Sprache jedoch noch, und Leben bedeutet konstante Veränderung. Selbst während ich das hier schreibe, wandert mir die Wortbedeutung unter den Fingern weg, langsam wie ein Gletscher zwar, doch ebenso unaufhaltsam. „Noch 1906 existierte in einigen deutschen Wörterbüchern der Beispielsatz ein Kind ficken in der asexuellen Bedeutung ‚ein Kind schlagen, mit Ruten züchtigen'“, zitiert die Ficki… Wikipedia etwa sinngemäß ein Buch von Wolfgang Müller (Originalzitat hier). Das muss man sich mal vorstellen! Schon morgen oder spätestens im Jahr 2906 könnte mein englisches Lieblingsadjektiv „sophisticated“ den Gemütszustand beschreiben, in dem man den erbarmungslosen Drang verspürt, seinen Innenminister a tergo zu vergewohltätigen! Horrible! „Schrecklich!“, meine ich natürlich.

Sowas bereitet mir (und vielleicht meinem Innenminister) schlaflose Nächte. Nein, dieser Unsicherheit muss Einhalt geboten werden! Deshalb fange ich hier in meiner Zelle an, Wörter mit Bedeutungsnägeln an meine Schmetterlingsalbumwand zu fixieren. Das Jahr 2906 kann kommen.

Ich bin bereit.

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