Einsame Spitzen

Die Intermot ist das wichtigste Ereignis für jeden gescheiten Motorradjournalisten, und weil ich keiner bin, fuhr ich der Messe 2008 in die Alpen davon, um mit gewaltbereiten Soziopathen über Heirat zu reden.

Herbst 2008, die Intermot steht an. Viele Leser von Motorradzeitschriften machen sich von Messen ein falsches Bild. Dort passiert zum Beispiel nichts Neues, denn alle Daten kommen schon lang vorher in die Redaktionen, damit die Crews dort passende Hefte für die Messen machen können. „Großes Intermot-Special“ oder so. Nein, Messen haben wenig mit Information zu tun, sondern man trifft dort einfach mal die Szene, kompakt an einem Ort, zum Kaffee trinken, Benzin schwätzen, Projekte planen und abends feiern. Hört sich gut an, ne? Ist es auch. Leider steht für fast jeden beruflichen Messebesucher, sei es nun von einem Hersteller oder von der Presse auch Messedienst an, und das ist ziemlich exakt genau so spaßig wie in der Vorhölle Fußnägel rauchen. „Wo sind denn die Toiletten?“ Bitte geh weiter, du Elendstourist. „Also, dieser Artikel da, mit dem ABS, ne…“ Bitte reicht mir meinen Strick.

Mit diesem Fetzen unnützen Wissens verstehen Sie vielleicht das folgende Telefonat besser, das vor der Intermot stattfand:
„…okay, super. Wir sehen uns dann auf der Intermot, oder?“
„Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Ich habe Urlaub eingereicht.“
„Was? Aber… die Intermot… da muss man doch hin?“
„Was? Wieso denn?“
„Na, da passiert die Motorradwelt!“
Meine Motorradwelt passiert auf Alpenstraßen, die von den letzten schönen Tagen des Jahres gewärmt werden, und wenn die restliche Motorradwelt derweil im Rheinland Dünnbier aus Reagenzgläsern trinkt, umso besser: sind wenigstens die Straßen frei.“

Kuhtreiber: Die Shiver kommt an der Hütte an. Die Kuh guckt dumm.

Genug von der Messe. Was braucht man für einen kurzen Alpenurlaub? Ein bisschen Wäsche, vielleicht eine Brotzeit für unterwegs und ein Dach überm Kopf. Meins war ein Kuhstall mit vorne einigen Gästeräumen drin. Anno Dunnemal war so ein Arrangement üblich, um die Abwärme der Kühe zu nutzen (BMW-Fahrer kennen das ja von ihren Füßen). Der strenge Geruch war in diesen guten alten Tagen vor der Erfindung der Hygiene natürlich ein Problem, aber zum Glück störte er die Kühe nicht sonderlich und die Sache funktionierte. „Grüß Gott“, sagt die Bäuerin, eine Grußformel, über die sich Leute aus dem gottlosen Norden gern lustig machen, wenn sie sich in Sicherheit wiegen (unter einem Blitzableiter zum Beispiel). Die Alpenländer sind in ihrer geographischen Nähe zum Himmel immer noch von einem alltäglichen Katholizismus durchdrungen. Über den Betten hängt ein Gemälde einer Bibelfigur, die segnend ihre Hände ausbreitet, im Wohnzimmer wohnt das allerheiligste Herz Jesu und er selbst hängt an den Pilgerwegen herum, wo ihm Passanten Blumen unter seinen handgeschnitzten Holzkasten legen. Gott im katholischen Verständnis passt einfach hierher. Als Bub in Bayern gab es keinen Zweifel für mich, dass der Choral „Näher, mein Gott, zu Dir“ nur von hier kommen kann. Wie so viele meiner damaligen Annahmen stellte sich das später als faktisch vollkommen falsch heraus, aber emotional wird es immer stimmen. Niemand singt das Lied mit mehr Inbrunst als die Alpenleute. Es könnte jemand da oben zuhören. „Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort!“, rief Jakob in Bethel aus, „Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ Er hätte auch auf der Zugspitze stehen können.

Die Sonne im Rücken seinen eigenen Bergschatten über den Dörfern im Tal sehen. Gänsehaut.

Diese weiteren, pathetischen Fitzel nutzlosen Wissens sollten deutlich machen, dass auch die Institution „Heirat“ so weit abseits des Menschen-Mainstreams noch etwas ernster genommen wird. Nichts mit Ehepartner wechseln wie Unterwäsche. „Ich sage euch, daß, wer immer sich von seiner Frau scheiden läßt, ausgenommen aufgrund von Hurerei, und eine andere heiratet, Ehebruch begeht.“ Wer hat das gesagt? Na, Jesus. Und Ehebruch ist eine Sünde, deshalb schippert der Bergbewohner zumindest mit einer ernst gemeinten für-immer-Intention in den Ehehafen. So wie Martin, der Sohn der Gastgeberfamilie. Nach Ankunft auf der Hütte ließ ich alles mitgebrachte Gepäck inklusive Frau dort, um schön fahren zu können. Frauenkenner sind bei diesem Satz zu Recht schmerzhaft zusammengezuckt, aber irgendwie schien mir diese schlechte Idee zu diesem Zeitpunkt eine gute Idee. Bei meiner Rückkehr über wunderbare Spätsommerpässe siffte der Ölfilter an der Aprilia Shiver, und mir fiel ein, dass ich Martin am Vorabend auf seiner KTM gesehen hatte — ohne Helm, aber mit Bommelmütze. Er erzählte mir später, die Bommelmütze, das sei, weil er wegen Trunkenheit am Steuer gerade eh keinen Führerschein habe. Eigentlich wollte ich mir Werkzeug leihen, um den Ölfilter nachzuziehen. Nun ist Martin aber ein amtliches Viech, das für derart geringe Drehmomente nur seine Pranken als Werkzeug braucht. Der Ölfilter saß fest.

„Ich habe heute deine Frau auf der Terasse sitzen gesehen“, sagt Martin nach getaner Arbeit.
„Das ist nicht meine Frau“, sage ich.
„Hm. Musst sie aber schon heiraten. Heirat ist wichtig.“
„Äh. Ich glaube nicht, dass das in ihrem Sinne wäre.“
„Oh. Darf ich ihr dann mal eine Flasche Sekt vorbeibringen, wenn sie wieder da sitzt?“
Da musste ich lachen. „Klar darfst du das. Ich würde nur nicht über Heirat reden.“
Die Frauenkenner haben hier mit der Hand auf ihre Stirn geklatscht, wiederum zu Recht, was sie gleich nochmal für den nächsten Tag tun können, an dem ich eine weitere große Runde fuhr — allein. Die Beschwerde „du hast mich mit einem heiratswütigen Psychopathen allein gelassen, ich habe mich nicht aus dem Haus getraut“ tat ich als gelungenen Witz ab. Ich möchte hier den Frauenkennern bestätigen, was sie ohnehin ahnen: Die Frau hatte später Gelegenheit, angemessen zu explodieren.

Wunderbare Touren mit einem coolen V2 gefahren und alles, was man über Frauen wissen sollte, vergessen.

Später am Abend, der knisternde Kachelofen im Wohnzimmer, ich mit Buch in der Hand und Tee auf dem Tisch. Klopf, klopf. Es ist Martin, er bringt Bier. Komm rein, Martin; komm rein, Bier. Martin hatte geschätzte zehn Bier Vorsprung, weil er gerade vom Nachbarn kam — mit seiner KTM und seiner Bommelmütze, denn zum Nachbarn sind es zwei Kilometer. Der Nachbar betreibt auch Landwirtschaft und hat eine Tochter, die ihrerseits einen eigenen Sohn hat, dessen Vater in Sünde abgehauen ist. Der Großvater mag Martin. Der Bub mag Martin. Martin mag die Tochter, die allerdings will ihn nicht heiraten. Martin setzt sich auf einen Katzenplatz im ansonsten leeren Wohnzimmer, wir öffnen die Biere. „Aber der Bub“, sagt Martin, „es tut mir leid um den Bub, der ohne Vater aufwächst.“ Tja, junger Freund, ratschlage ich großspurig, man kann die Liebe eben nicht zwingen. Als hätt ich Ahnung von Frauen. „Ist deine Frau noch wach?“ Nein, Martin, sie ist schon ins Bett gegangen. Er sagt „Musst sie schon heiraten, gell?“ und „Hab sie heute gar nicht gesehen…“ Äh, tja… Ich verschweige ihm, dass sie sich vor ihm fürchtet, und er gibt weitere Gründe, das zu tun. Er ist nämlich mal Tiroler Kickboxmeister gewesen, sagt er. Und wenn ihm jemand dumm komme, dann raste er eben aus. So wie dieses eine Mal auf dem Oktoberfest, als ihm das Sicherheitspersonal den Zutritt zum Zelt verweigern wollte, weil er zu besoffen aussah. Er hat einen verprügelt und, als es dann mehr wurden, eine dieser orange-schwarzen Schneehöhenmesslatten aus dem Boden gezogen und jemandem in die Zähne gerammt. Martin setzte seinen Bierwunsch durch, der Richter setzte 25.000 Euro Schmerzensgeld fest.

Er erzählt noch von seinen KTM-Tuning-Projekten, er lädt mich ein, mit ihm mal aufs Oktoberfest zu gehen, aber ich verstehe trotz dieser Freundlichkeit auch, dass ihn diese Tochter nicht heiraten will. Ich meine, wie er da so schüchtern sitzt, wirkt er nicht wie jemand, der nervös auf seinen nächsten Gewaltanfall wartet. Er sieht vielmehr so aus, als könne man ein paar Stunden mit dem Hammer auf ihn einschlagen, bevor er einem ruhig, besonnen und völlig unbeeindruckt das Ding aus der Hand nimmt und sagt „Jetzt bin ich dran.“ Diese Einschätzung bestätigt seine Erzählung vom Treckerunfall. An Alpenhängen fährt man Trecker mit Spurverbreiterung (vier Räder pro Achse montiert), damit man nicht vom Berg kugelt wie ein Smart. Dass trotzdem mal was umfällt, sieht der Bergbauer als normal an. Ist ja schließlich steil. An Martins Berg hat offenbar fast jeder schonmal einen Trecker fallen sehen. Fast erwarte ich als Zuhörer, dass es draußen anfängt, friedlich Landmaschinen zu schneien. Ein Trecker ist mal auf Martin draufgefallen, hat sich dabei jedoch trotz seiner über drei Tonnen mehr selbst beschädigt als Martin, der sich mit einem gebrochenen Becken und ein paar weiteren Brüchen nach Hause schleppen konnte, während der Trecker als Wrack verschrottet werden musste.

Die typischen kleinen Alpenstraßen. Schee. Man muss nur auf herabfallende Trecker achten.

Am nächsten Tag wunderte ich mich, dass die Frau nicht mehr mit mir sprach, aber hey: Wer versteht schon die Frauen? Nachdem sie eh nichts sagte, schwang ich mich nochmal auf die Shiver, die hier so viel Laune macht. Vollgas, bis die Sonne geht. Ja, ich höre die „Ouh!“-Rufe der Frauenkenner bis hier an den Schreibtisch. Abends wieder im Wohnzimmer, der Tee, der knisternde Kachelofen, meine drahtlose Reiseschreibmaschine, ich, und die Frau natürlich nicht. Klopf, klopf. Es ist Martin. Diesmal bringt er eine Flasche Sekt. Nein, Martin, ich hasse Sekt und außerdem schreibe ich gerade; ich kann mich jetzt nicht unterhalten. „Dann setz ich mich eben einfach hin und bin still“, sagt er in einem traurigen Tonfall, der mich derart überrumpelt, dass ich ihn hineinwinke. Er wankt hinein. Setzt sich auf seinen Katzenplatz, auf den Zentimeter genau. Fängt an, zu trinken — still. Er wird aus Langeweile schon gehen, denke ich und tippe. Tippelditappel. Gluck. Knisterknack. Tippelditappel. Gluck. Knisterknack. Eine Stunde ist rum. Er ist noch da, hat keinen Mucks gemacht. Er trinkt außerdem in einem Takt, der nicht darauf schließen lässt, dass er so bald damit aufhört. Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich einfach eine neue Flasche holt. Ich habe in meinem Leben gruseligere, befremdlichere Dinge gesehen als dieses stille Monument aus Fleisch, das ebenso wortlos wie systematisch seinen Sekt killt, aber nicht viele. Die Konzentration zum Schreiben ist jedenfalls vorbei. Ich werfe ihn raus, was er mit einem schlichten „Gute Nacht“ hinnimmt, und gehe ins Bett, um schlecht zu schlafen.

Am nächsten Tag dann die Frauenexplosion — wegen mir. Wir machen außerdem die Hütte sauber, hängen einen Zettel hin und hauen heimlich einen Tag früher ab — nicht nur wegen mir. Seitdem denke ich anders über Messen. Der neue Alptraum: Ich stehe leidend auf einer Messe und Martin kommt am Stand vorbei, um über Heirat zu reden, die zahngekerbte Schneelatte in der einen Hand, Asti Spumante in der anderen.

“Wir halten Köln sauber.“ Ja, indem wir nicht hingehen. Mach mit!

Kommentare:

ältere
  • Winfried v.B. meinte am 27. August 2010 um 10:58:

    Hey, super. Herzlichen Dank für‘s Posten.

  • Bruno B. meinte am 30. August 2010 um 19:40:

    Saugeil! Aber he, kommen immer noch zuviel nach Köln!

  • | Handwaschpaste meinte am 6. Oktober 2012 um 21:38:

    […] mag ich Messen nicht besonders. Ich halte es da eigentlich eher wie Herr Gleich. Nun war ich doch mal wieder neugierig.  Hier ein paar Bilder von fast keinen […]

  • Warum werden meinte am 16. März 2014 um 11:50:

    Nein Jesus hat das nicht gesagt, lieber Clemens.

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