Helden: Motorrad-Legende Gustav Reiner

Portrait der Motorrad-Legende aus Schwaben: Gustav Reiner, der „Kamikaze-Gustl“, lebte hart am Begrenzer.

geschrie­ben und mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Ralf Steinert (www.fastbike.de).

Die Menschen unterscheiden sich gewaltig in der Verplanung der Zeit zwischen ihrer Geburt und dem irgendwann folgenden Verlassen dieser Welt. Die einen wissen sehr früh und sehr genau, was sie erreichen wollen und tüfteln einen raffinierten und streng einzuhaltenden Stufenplan aus, der sie am Ende an das gewählte Ziel bringen soll. Wenn alles klappt. Andere wiederum torkeln locker durch die Hose atmend, aber ziellos durch Zeit und Raum und nehmen die Dinge einfach so, wie sie kommen – auch wenn niemals etwas kommt. Und dann gibt es ein paar wenige Menschen, die sich einer Sache widmen, die sie ständig und dauernd ausüben können, die sie jeden Tag ihres Lebens wunschlos glücklich macht und die daher nie auf etwas warten müssen, dass sich vielleicht niemals erfüllt. Einer dieser glücklichen Menschen war Gustav Reiner, genannt „Kamikaze-Gustl“.

Gustav Reiner wuchs in einer schwäbischen Studienrats­familie auf, verließ aber früh die Schule, machte eine Lehre auf dem Bau und fälschte die Unterschrift seines Vaters unter dem Kaufvertrag eines Mopeds. Diese Straftat sollte die einzige seines Lebens bleiben. Schon im seinem ersten Motorradjahr legte er 60.000 km zurück, bis man ihm die Vorfahrt nahm und er mit zertrümmerten Sprunggelenk ein Jahr lang nicht mal gehen konnte. Kaum konnte Gustav wieder die ersten Runden drehen, wurde er wieder auf die gleiche Weise niedergestreckt, aber das hinderte ihn nicht daran, so bald wie nur irgend möglich seiner neuen Leidenschaft nachzugehen.

Entschlossenheit macht den Unterschied.

Gustav Reiner war ein von Natur aus kräftiger Mensch, dem die Knochen tief und fest im Fleisch steckten. Er packte sein Motorrad fest an den Hörnern und zwang es einfach, seinem Willen und seiner Richtung zu folgen. Er fuhr sehr modern, mit Hanging-Off — heute würde man ihn wohl „Elbows“ nennen. Reiner war ein Naturtalent. Irgendwann meldete er sich zu seinem ersten richtigen Bergrennen an. Auf dem Rennplatz kannte er keine Sau, fuhr beim Startsignal los und stand kurze Zeit später auf dem dritten Platz des Podiums.

Von da an ließ sich der willensstarke Reiner durch nichts und nie­manden von seinem erklärten Ziel abbringen und das hieß: Motorradrennen fahren und gewinnen. Durch finanzielle Hindernisse nicht ent­mutigt — Gustav schaffte es immer wieder, mit seiner offenen, grundehrlichen, menschlichen Art und natürlich durch seine sportlichen Erfolge, Sponsorengelder zu akquirieren — und auch durch Rück­schläge in Form von Stürzen nicht. Und gestürzt ist Gustl reichlich. Er war in der Lage, während des Rennens sämtliche lebenserhaltenden Instinkte zu unterdrücken. Wahrscheinlich war er einfach immer wieder nur erstaunt, dass die Physik sich weigerte, seinem Willem zu folgen. Gustav Reiner hatte vor nichts und niemanden Angst. In einem Interview 1985 mit der „Motorrad“ antwortete er auf die Frage, ob er denn keine Angst hätte: „Vor Schmerzen? Warum sollte ich ich? Meistens bin ich doch direkt bewusstlos und spüre gar nichts.“

Publikumsliebling und Sponsorenschreck

In Kassel-Calden zum Beispiel warf er seinen sicheren DM-Titel weg, indem er mit 66 Sekunden in Führung liegend, aber immer noch entfesselt fahrend das Vorderrad verlor. Kein Einzelfall, für solche Stunts wurde Gustl schnell berühmt-berüchtigt. Auf dem Salzburgring legte er in der Fahrerlagerkurve einen einzigartigen, 200 Meter andauernden Highsider hin. Peter Rubatto schwört, dass vor und nach Gustav Reiner niemand mehr so hoch oben auf der Böschung gelandet ist. Obwohl er so oft stürzte, holte dieser begnadete Motorradfahrer aber mehr Punkte als seine sitzenbleibenden Rivalen und gewann dreimal die deutsche Meisterschaft. Er war der beste und erfolgreichste Privatfahrer seiner Zeit und seine sportlichen Erfolge, seine spektakulären Stürze und sein angeborenes Show­talent ließen „Kamikaze-Gustl“ schnell zum absoluten Publikums­liebling der 80er-Jahre-Motorradszene werden.

Gustav Reiner mochte diesen Spitznamen nie sonderlich, er nannte sich selbst lieber „der Mann, der barfuß Funken sprüht“. Aber er klebte den japanischen Kamikaze-Schlachtruf „Banzai“ auf seinen Helm und gab alles: Beim Meisterschaftslauf in St. Wendel knallte er, locker in Führung liegend, mit einem seitlich sitzend gefahrenen Wheelie über die Ziellinine. Auf einer 500er Zweitakter. Das Publikum jubelte begeistert, die anwesenden Sponsoren waren entsetzt.

 

Halb Tier, halb Schwabe

Das Fahrerlager wurde zu Reiners persönlichem Shangri-La. Mit Barry Sheene und seinem Bruder im Geiste Boet van Dulmen ließ er es mächtig krachen. Gustl überredete den Holländer, während eines internationalen Rennens in Schwanenstadt an einem streckennahen Bierstand anzuhalten und ein schnelles Pils zu trinken. Die beiden belegten trotzdem noch den dritten und vierten Platz. In Kassel-Calden wurde Reiner nach durchzechter Nacht um 8 Uhr morgens von seinem verzweifelten Team schlafend im Straßengraben aufgefunden. Vier Stunden später gewann er sein Rennen.

So wild sich Gustl auf dem Motorrad und oft auch beim Feiern aufführte, so organisiert, penibel, ja pedantisch war er in der übrigen Zeit. Seine Motorräder waren stets im Top-Zustand, wegen technischem Defekt ausgefallen ist er mit einer 500er nie. Sein langjähriger Mechaniker Heinz Röhrich erzählt: „Beim Gustav haben wir an den Motorrädern immer dreimal so lange gearbeitet wie die anderen. Auch wenn keine Sturzschäden zu beheben waren. Der Gustav bestand eben auf absolute, klinische Perfektion. Selbst wenn ich ihn nach einem Sturz im Krankenhaus besucht habe, galt seine größte Sorge der schnellen und perfekten Wiederherstellung der Maschine und er fragte mich sogar, ob ich nicht sein Wohnmobil mal abduschen könnte. Wenn wir ihn ärgern wollten, haben wir die Schublade mit seinen ordentlich sortieren Kulis auf- und zugeknallt. Sowas machte ihn verrückt.“ Sturzschäden musste Röhrich oft und lange wieder instand setzen. Er schraubte fast jede Nacht, bis ihm die Augen zufielen, erzählt der ehemalige Herweh-Mechaniker Lukas Schmidt. Aber Gustls Persönlichkeit war Motivation genug, beschwert haben sich die Mechaniker nie. Die Sponsoren wohl schon eher. Im gut ausgestatteten Hein-Gericke-Motorsport-Team standen ihm und Teamkollegen Manfred Fischer je zwei teure Dreizylinder-Honda-Brenner zur Verfügung. Für Kamikaze-Gustl reichte  das allerdings nicht. Fotograf Manfred Mothes erinnert sich: „Im Training schmiss Reiner die erste Honda direkt nach einer halben Runde in der Schikane weg. Wütend stapfte er quer über die Strecke zurück in Richtung Box. Dort stand schon seine zweite Honda, zitternd vor Angst. Er griff sie sich, knallte gnadenlos mit kalten Reifen los und schlug wiederum nach einer halben Runde an gleicher Stelle ein. In fünf Minuten zwei Reiner-Hondas zerstört.“

Die Welt ist gerade groß genug.

Schnell stellte für Gustav Reiner die Deutsche Meisterschaft keine wirkliche Herausforderung mehr dar. Die Weltmeisterschaft in der Königsklasse war fortan die Messlatte. Reiner war Realist genug, um zu wissen, dass er ohne Werksunterstützung keine Chance auf den Titel hatte, aber der Fight mit den Werksgrößen reichte ihm. Tatsächlich ist es ihm gelungen, mit einigen freundschaftlich organisierten Werksteilen für seine Dreizylinder-Honda respektable zehn WM-Punkte einzufahren — als Privatfahrer! Der Underdog-Status versüßte ihm jeden einzelnen gewonnenen Punkt tausendfach. Eine Karriere als Werksfahrer hätte auch nicht lange gedauert. Mothes erinnert sich: „Während einer Honda-PR-Veranstaltung mit Promi-Instruktoren-Wochenende am Nürburgring ist es abends im Hotel zum Eklat gekommen. Reiner war stinksauer auf den damaligen Honda-Chef, weil der ihm keine Werks-Vierzylinder geben wollte. Er fing an rumzupöbeln, beleidigte die versammelten Honda-Kunden und hätte fast eine Prügelei angezettelt. Das war das Ende seiner Honda-PR-Dienste. Der Honda-Boss hatte schon gewusst, warum er dem Gustl keine Vierzylinder geben wollte. Er hatte nämlich die Befürchtung, dass dieser damit nichts anderes im Sinn haben könnte, als auf seiner Lieblingsstrecke Hockenheim ‚Gung-ho!‘-Jagd auf Wayne Gardner zu machen und dabei beide im Motodrom zerschellen würden.“ Doc Scholl: „Der Gustl hat den Gardner mal im Suicide-Modus außenrum überholt. Als ich ihn später fragte, warum er so einen Schwachsinn riskiert hätte, sagte er: ‚Och, das ging grad so gut‘.“

Zu Doc Scholl hatte er eine ganz besondere Verbindung. Außer ihm misstraute er allen Ärzten, Krankenhäuser konnten ihn nicht fest­halten. Peter Rubatto: „In Assen hat er sich die Hüfte gebrochen. Nur eine Woche später tauchte er in Kassel-Calden auf. Er startete aus letzter Reihe, weil er sich anschieben lassen musste. Allein hätte er den Start nie geschafft.“ Von niemandem hat Scholl so viele Röntgen­aufnahmen wie von Gustav Reiner mit seinen 90 Knochenbrüchen. Kleinere Verletzungen wie eine ausgekugelte Hüfte behandelte Reiner mit Hilfe eines Spanngurtes an der Transportertür und Fahrerkollegen selbst. Manchmal türmte er aus dem Krankenhaus, fuhr verletzt stundenlang zu Doc Scholls Privatwohnung, um sich dann für eine Woche in dessen Ehebett an den Tropf legen zu lassen. „Du denkst nicht weiter, als eine fette Sau springt“, hat Doc Scholl zu ihm des Öfteren gesagt und gehörte doch zu den größten Bewun­derern seines Fahrertalents.

Karriere-Ende in Augsburg

1989 stürzte Reiner beim Augsburger Flugplatzrennen und erlitt eine sehr schwere Gehirnerschütterung. Ein winziges Blutgerinnsel im Gehirn wurde erst nicht diagnostiziert und die Behandlung kam spät. Er sollte danach nicht mehr der alte, starke Gustl sein. In der folgenden Saison startete er noch einmal beim ersten Rennen — ohne Erfolg. Danach hat er sich nie wieder auf ein Motorrad gesetzt.

Gustav Reiner lebte fortan bescheiden von Gelegenheitsjobs. Aus­gemacht hat ihm das wenig, bereut hat er nichts. „Der Rennsport war gut zu mir“, sagte er in einem Interview. Auch wenn die eingangs erwähnten peniblen Lebensarchitekten das vielleicht nicht verste­hen: Gustav Reiner lebte einen großen Traum — jeden einzelnen Tag seines Lebens als leidenschaftlicher Rennfahrer.

Der Einsatz einer künstlichen Hüfte verlief mit Komplikationen, sie wollte nicht heilen und musste wieder entfernt werden. „Das Leben muss schön sein, nicht lang“, war Gustls Motto. Gustav Reiner starb auf der Rückfahrt vom Krankenhaus. Er wurde 54 Jahre alt.

Manfred Mothes‘ coole Bilder von Gustl


Für die Mithilfe bei der Recherche bedanke ich mich bei:
Frithjof Erpelding, Peter Frohnmeyer, Manfred Mothes, Heinz Röhrich, Peter Rubatto, Lukas Schmidt, Doc Scholl und ganz besonders bei Jeannette Reiner.

Anmerkung:
Die Helden gibt es in jeder Fastbike. Du solltest das Heft mal lesen: www.fastbike.de

Kommentare:

ältere
  • Chris G. meinte am 24. Januar 2011 um 1:56:

    Gustav Reiner war schon ein echter deutscher Haudegen oder auch Teufelskerl!
    Heute sind wir in der BRD leider ein armseliger Haufen von Gutmenschen die nur noch glauben egal welche Luege Ihnen von Oben vorgesetzt wird und ihre Koepfe nur noch zum Haare schneiden benutzen.Alles nur noch Laberkoeppe und vom Konsum verweichlichte Buergersoehnchen und Toechterchen.
    Ich habe Gustav mal Unterwegs auf seinem LKW getroffen und ihn gefragt was er denn gewesen waere wenn er nicht Motorradrennen gefahren haette?
    Er sagte nur deutscher Wehrmachtssoldat oder Jagdflieger.
    Ein aufrechter Mann der den Gashahn hat sprechen lassen…Respekt!
    Er war auch ein tief glaeubiger Mensch denn sonst kann man nicht fahren wie es Gustav getan hat.
    Neben Toni Mang,Dieter Braun und Georg Meier auf der Kompressor-BMW war Gustav Reiner ohne Frage eine Groesse im deutschen Motorradrennsport!

  • Franz Semmelkrenn meinte am 29. Januar 2011 um 14:50:

    Schön, dass der Heizer noch nicht vergessen ist. Wie geht es seinem Kollegen von damals dem Reinhold Roth? Der würde hier auch gut hin passen. Ich hab beide einige mal live gesehen. Ganz tolle Burschen!

  • mikrokokkus meinte am 18. November 2011 um 16:29:

    lieber Chris: ganz genau! Früher war die Gesinnung der Deutschen ohne Fehl und Tadel. Es war nicht alles schlecht unter Adolf! (Wer Ironie findet, hat sein Gehirn nicht am Eingang abgegeben …)

  • der link meinte am 25. Dezember 2012 um 11:40:
  • Steve meinte am 29. März 2013 um 18:26:

    Vielen Dank für gute Qualität und Vielfalt an Bildern.

  • Marcus Kleiner meinte am 7. April 2013 um 22:57:

    Danke für diesen tollen Bericht! Als Bietigheimer bin ich mit Gustav groß geworden. Er, Klaus Klein haben meine Jugend geprägt. Obwohl Gustav öfter stürzte als die anderen zusammen, hat er es länger geschafft auf der Welt zu bleiben.

    Schade nur, dass nach dem Augsburg Sturz wirklich etwas verschoben war…. Danach war es sehr schwer….

  • Tobias Höflinger meinte am 13. Juli 2013 um 19:41:

    Hallo ! Bin ein riesen Gustl Reiner Fan gibts noch Fans vom Gustl? Das war noch ein Rennfahrer der immer alles gab schade das er nicht mehr am leben ist. Bitte meldet euch bei mir die Gustl Reiner Fans sind. Danke

  • Tobias Höflinger meinte am 13. Juli 2013 um 19:42:

    Bitte bei Facebook bei mir melden danke

  • Ruth Selzer meinte am 12. September 2013 um 21:55:

    Hallo,
    ich habe durch Zufall erfahren, dass ich einen Lederkombi von Kamikaze-Gustl im Schrank hängen habe. Dürfte wohl einer seiner ersten Komis sein: „weiss, durchgehend mit seinen Initialien auf den Rücken genäht und den entsprechenenden Sponsorenaufnähern.“ Hat natürlich ein paar Jahre auf dem Buckel. Ich habe ihn mal in einem Outlet vor ca. 20 Jahren gekauft. Wusste aber bis vor kurzem – bis ich ihn verkaufen wollte und den Namen gegoogelt habe nicht, dass er von Kamikaze-Gustl ist.
    Ich würde ihn gerne an einen Fan-Club oder Motorradmuseum abgeben.
    Wer hat eine Idee oder Adresse?

  • Frithjof Erpelding meinte am 3. Dezember 2013 um 11:52:

    Hallo
    wir würden die alte Lederkombi sehrt gerne in unserem Museum ausstellen,zumal wir einen sehr guten Kontakt zu Gustav hatten.

    Mit freundlichem Gruß
    Frithjof Erpelding
    Classic Race Museum

  • Stefan Wollenweber meinte am 18. August 2014 um 20:06:

    Man kann es heute gar nicht mehr glauben, daß es bis vor knapp 25 Jahren viele so Verrückte im Stil eines Gustav Reiner gab. Nachrufe auf ihn sind immer wieder schön zu lesen, dieser hier ganz besonders.

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