Papierparadigmen

Tradition und Zukunft des Lesens im Biotop „Flughafen“

Wie so viele moderne Nomaden verbringe ich eine erschreckende Menge an Zeit in Flughäfen. Flughäfen bestehen aus gefrorener Langeweile, dem Gehirn ist dort ein dauerhaftes Überleben ohne Buch oder sonstigen Lesestoff unmöglich. Aus diesem Grund trage ich immer zehn, zwanzig dicke Wälzer am Mann mit zu meinen Terminen. Das geht deshalb, weil ich sie in sehr flüchtiger Form bei mir habe, eigentlich nur ihre Essenz transportiere: ihre Wörter. Und die passen in derartigen Mengen auf eine kleine Speicherkarte, dass man für ein ganzes Leseleben nur eine bräuchte. Lesen passiert dann auf einem kleinen PDA mit seiner E-Book-Software. Es könnte genauso eines dieser Smart Phones sein, es hat auf jeden Fall in etwa dieselbe Größe, nämlich die eines Handtellers. Die Frontfläche besteht hauptsächlich aus Bildschirm, auf dem dann die aktuelle Buchseite angezeigt wird. Ein Knopfdruck blättert um. Es ist fürs Bett noch praktischer als ein Taschenbuch, weil es seine eigene Beleuchtung hat zum heimlich unter der Decke lesen und man es viel einfacher einhändig umblättern kann, was wichtig für mich als extrem fauler Mensch ist.

Wir Leser erleben gerade einen Paradigmenwechsel. Immer mehr Texte werden von Bildschirmen gelesen und immer weniger von Papier. Mein Bücherregal ist lachhaft klein, doch auf meinem PDA liegen alle Gedichte von Goethe. Kann man immer wieder lesen, den Mann. Als ich das mal abends am Lagerfeuer einer Leserin erzählte, war sie unerwarteterweise regelrecht schockiert. Sie bezeichnete meine Art, Goethe zu lesen wortwörtlich als „Sakrileg“. Zum Lesen gehöre Papier, dieser Geruch, dieses Gefühl, dieser Haufen an Brennstoff im Regal. Elektronen förderen den Verfall der Lesekultur und so weiter. Ja, ich verstehe sie. Mein „Faust“ in einer wunderschön linnengebundenen Ausgabe aus dem Nachlass meiner Oma ist mir lieb und teuer. Meine Originalsammlung von Motherwell-Gedichten aus dem 19. Jahrhundert ist ein kleines Fragment menschlicher Geschichte. Und dennoch: Ich mag diese Texte genauso im Vortrag, genauso im Nachdruck, genauso in digitaler Form. Denn den Worten geht es nur darum, mitgeteilt zu werden. Das Interessante ist also nicht, dass sich die gute Leserin so fühlt, das ist sehr verständlich. Das Interessante ist vielmehr, dass ihre Bedenken genau so, beinah wortwörtlich bei der letzten großen Leseumwälzung geäußert wurden: als Gutenberg und Co. Bücher der breiten Masse zugänglich machten. Ich glaube deshalb, dass uns Lesern eine großartige Zukunft bevorsteht.

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