Arbeit: Das ist jetzt dein Leben.

Kennt ihr die „Work-Life-Balance“? Ich musste an diesen schon etwas älteren Begriff denken, als ich ein Video einer jungen Frau sah, die sich über den Einstiegs-Arbeitsmarkt beschwerte: Die Bezahlung war ihr zu niedrig, hatte sie doch extra studiert, um besser bezahlte Positionen zu erreichen; 30 Tage Urlaub war ihr viel zu wenig („im JAHR!“, rief sie immer wieder, und es dauerte etwas, bis ich als Selbständiger verstand, ob sie meinte, das sei viel oder wenig); und die Wochenenden könne sie nicht für ihr Leben verwenden, weil sie da einkaufen und ihre Wohnung säubern müsse. Es ist relativ klar, wie sie ihre Existenz versteht: Da gibt es die Arbeit, die doof ist, aber getan werden muss, um das eigentliche, echte Leben zu führen, das ihr dann natürlich viel zu kurz kommt.

Ich gebe ein bisschen dem Begriff „Work-Life-Balance“ die Schuld, weil er impliziert, dass Arbeit außerhalb des Lebens stehe. Wenn wir genau hinsehen, wird klar, wie absurd das ist: Du verbringst an den meisten Tagen 8 von 16 wachen Stunden auf der Arbeit, manchmal mehr, plus den Overhead, da hin und wieder heimzukommen. Wenn das nicht Teil deines Lebens ist, dann hast du sehr wenig Leben, ja. Man muss manche Leute da richtig mit der Nase draufdrücken, wie zentral die Arbeitszeit im Leben ist: Du verbringst mehr wache Zeit mit deinen Arbeitskollegen als mit deinem Ehepartner. Viele Arbeiter kennen daher ihre Kollegen auch besser, und haben intimere Bindungen zu ihnen. In meinem Métier ist es zum Beispiel so, dass wir durch kleine Abenteuer gehen. Die Sonne geht unter auf dem Geröllpass, da *BANG!* platzt der Reifen, der auf einem Stein repariert werden muss. Wir schaffen es mit dem letzten Tageslicht. Oder wir sitzen abends in klirrender Kälte im Gebirge am Feuer, die Sterne darüber, das Stadtleben weit weg. Sowas schmiedet Freundschaften. Stell dir vor, du fliegst Personal zu Bohrinseln und musst auf deinen Copiloten vertrauen wie auf deinen eigenen Fuß. Deshalb muss man Arbeit unbedingt als Teil des Lebens begreifen und folglich seine Arbeit so aussuchen, dass sie ein guter Teil des Lebens sein kann.

Das war kein abstraktes Beispiel, das war so.

„Aber Arbeit ist scheiße!“

Nun sind natürlich nicht alle Jobs voller Lagerfeuer und Helikopterflüge. Diese Einzelpunkte verzerren aber eh das Bild dieser Jobs: In meiner Branche werden dringend Leute gesucht. Will aber keiner machen, schon gar nicht für das Geld. Bohrinseln suchen auch dringend Leute. Wollen aber noch weniger Leute machen. Es hat immense Vorteile, im Kaufland um die Ecke zu arbeiten. Man kann natürlich trotzdem mit so einer Lösung extrem unzufrieden sein. Dann muss sich etwas verändern. Veränderungen können nur auf zwei Arten und Weisen passieren: Du kannst die Welt ändern, bis sie zu deinen Anforderungen passt. Das geht immer dann, wenn sich die Änderungen an der Welt auf das beschränken, was du auch wirklich verschieben kannst: deine Kaffeetasse zum Beispiel, oder deinen Arbeitgeber. Du kannst aber nicht „Das System“ ™ ganz allein in deiner Lebenszeit bemerkbar verändern. Hier kommt dann die zweite Art ins Spiel, Dinge zu verändern: deine Einstellung dazu. Wie du die Welt bewertest, hat einen ebenso großen Einfluss auf dich wie die Realität. Der Unterschied ist, dass du deine Bewertungen vergleichsweise aufwandsarm ändern kannst.

Viele junge Menschen haben eine negative Einstellung zum „System“. Das „System“ gibt es aber nicht als böses abstraktes Monster, gegen das man kämpfen kann, will, muss. Das System sind wir alle. Das System entsteht emergent aus den Dingen, die wir tun und die wiederum entstehen aus dem, was wir vorher denken. Der christliche Glauben etwa hat Europa mental so verändert, dass wir im Kopf etwas seltsam wurden in über 1000 Jahren Exposition, aber eben auch bemerkenswert wohlhabend. Für diesen Wohlstand gibt es wie immer viele Faktoren, aber wer das mentale Umfeld weglässt, kann die heutige Welt nicht belastbar erklären. Einen schönen Einblick in die Entwicklung von Memen in Gesellschaftsgröße und speziell das westliche Mindset gibt Joseph Henrich in seinem Buch „The W.E.I.R.D.est People in the World“. Wenn man akzeptiert, dass es das böse Monster „System“ so nicht gibt, dass es Myriaden Dinge verflechtet, bei denen man keines bei genauer Betrachtung wirklich rein „gut“ oder „böse“ nennen kann, dann hat man den ersten Schritt geschafft.

Liebe das System!

Das System aus allen Menschen hat bemerkenswerterweise dafür gesorgt, dass es allen immer besser geht, während das seit Malthus‘ „Essay on the Principle of Population“ von 1798 stets bestritten wurde, nach Malthus stets in der Form „aber DIESMAL kann es NICHT! SO! WEITERGEHEN!“. Und dann geht es immer doch so weiter. Es ist ein wahres Wunder, und wer die Mechanismen genauer nachlesen will, kann das im Buch „Superabundance“ tun, in dem Marian Tupy und Gale Pooley den Stand der Forschungen zusammenfassen. Ökonomen kommen tendenziell auf ein positives Menschenbild, weil sie diese Dinge lernen. Viel mehr Leute sollten sie lernen. Wer den menschlichen Wohlstand als das Wunder begreift, das er ist, dem wird eines klar: Die Verkäuferstelle beim Kaufland um die Ecke ist eben kein nutzloses Wassertreten. Sie ist Teil der Menschenarbeit, die die Welt für uns alle etwas angenehmer macht.

Auch die ungeliebte Bohrinselarbeit: Wo wären wir, wenn das keiner machen wollte? Ich bin jedem dankbar (das ist kein generisches Maskulinum, es sind fast nur Männer), der die harte Arbeit auf sich nimmt. Ich bin jeder dankbar, die in der Pflege arbeitet, im Heim, im Krankenhaus, im Kindergarten. Ich finde auch meinen Beruf wichtig, das Dinge anschauen, mit Menschen sprechen und aus all dem einen Gedankengang für andere kompilieren, den diese Anderen wiederum weiterspinnen. Wenn wir händeringend unser Los in dieser Welt beklagen, dann hilft meist ein nüchterner Blick ohne rosa Brille in die Vergangenheit. Wenn man genau hinsieht, wird schnell klar: Früher war einfach alles schlechter. Dass man im warmen Zimmer auf dem Arsch sitzend einen Lebensunterhalt verdienen kann, ist in der Weltgeschichte relativ jung und bedankenswert. Und dann erst die Auswahl! In der oft verklärten Vorzeit gab es keine Auswahl. Du hast jeden Tag gesammelt und vielleicht gejagt, fertig. Du bliebst bei deinem Clan, fertig. Für Dinge wie „Urlaub“ oder „Luxus“ gab es weder ein Wort noch überhaupt einen Platz zum Existieren. Nun haben die Leute damals sicher nicht den ganzen Tag geweint, aber wenn die Person vom Anfang dieses Artikels in die Steinzeit zurück müsste, um dort zu überleben, würde sie wesentlich ärger weinen müssen als ob ihres aktuellen Unglücks des Arbeitseintritts in 2023.

Ohne viele Menschen, die viel Verschiedenes arbeiten, gäbe es weder Häuser noch Autos noch Motorräder. Und schon gar nicht gäbe es Motorradurlaube mit Kumpels.

Es gibt zu wenige Menschen

Wenn du es also schaffst, außer den Systemhass noch den Menschenhass abzulegen, hast du einen besseren Blick auf eine Realität, die du wahrscheinlich ein bisschen verdrängt hast: Es geht uns erstaunlich gut. Daran hat die Welt keinen Anteil. Ohne menschliches Tun und Wissen müsstest du ohne jede Medizin deine Kalorien der Wildnis abtrotzen. Wir sorgen füreinander, wir tun das, was die Natur eben nicht für uns tut (dein Haus ist Menschenwerk, selbst wenn es aus Lehm besteht). Und mit dieser kleinen Handvoll Gedanken möchte ich am Arbeitsmarkt Verzweifelnde wieder losschicken: Findet das, wo ihr das Gefühl habt, dass ihr dort hingehört und gebraucht werdet. Das ist derzeit aufgrund des Arbeitskräftemangels einfacher, als es früher für uns war. Findet euren Platz im Wunder des Ganzen. Und dann tut die Arbeit gut, dann tut sie euch gut. Und wenn ihr die Erwerbsarbeit als wichtigen Teil eures Lebens akzeptieren konntet, ist es vergleichsweise einfach, das auf Hausarbeit auszuweiten, oder auch auf die unendlich wichtige Beziehungsarbeit. Work-Life-Housework-Beziehungs-Balance ist Quatsch. Ihr habt ein Leben. Es besteht hauptsächlich aus Arbeit verschiedener Couleur. Make it count.

Gib mir 2 Euro, wenn du es genauso siehst. Sonst gib mir 3. ?

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Kommentare:

ältere
  • Marcus meinte am 9. November 2023 um 17:40:

    Sehr schön geschrieben, du rettest mir den Tag 🙂
    Auch ich vergesse immer wieder mal, wie gesegnet ich doch mit meiner Arbeit bin. Work und Life ist eine Einheit und immer wieder wünsche ich mir mal, dass ich es trennen könnte um Abstand zu gewinnen. Speziell dann, wenn ich zu intensiv Facebook genutzt habe.
    Das Problem bin dabei aber ich …

    LG, Marcus

    • Clemens Gleich meinte am 9. November 2023 um 17:56:

      Das Problem ist Facebook, bzw. generell die Hype Machine in all ihren Facetten. Seit ich dort Disziplin übe, habe ich auf einmal erstaunlich viel mehr Zeit.

  • Stephan Fritsch meinte am 9. November 2023 um 21:16:

    Da muss ich Marcus zustimmen. Danke für den schönen Text Clemens.
    Wir haben aber auch verdammtes Glück, dass wir mit dem, was uns Spaß macht Geld verdienen können.

    • Clemens Gleich meinte am 10. November 2023 um 8:16:

      Und die Chancen, dass man etwas findet, das man auch machen möchte, bei dem man ein Mitgestaltungs-Gefühl hat, die sind halt im Vergleich zu früher Schlaraffenland. Als gelernter Kaufmann möchte ich grundsätzlich alle Kaufleute-Berufe empfehlen, auch wenn die von Ferne den Touch des Banalen haben. Oder Landmaschinentechniker. Da suchen sie auch händeringend, und das ist alles hochinteressante Technik.

  • Erik meinte am 10. November 2023 um 9:59:

    Naja, ganz so einfach ist es nicht. Das „System“ hat schon immer viel Elend und Ungemach aber Menschheit und Umwelt gebracht, Stichworte krieg, Sklaverei und aktuell halt auch Klimakatastrophe.

    Dass viele Menschen sich nicht damit abfinden wollen und wollten, es sich in diesem System gemütlich einzunisten, hat uns überhaupt erst viel von dem Fortschritt gebracht, den Du in deinem Artikel als Major Selling Point pro System verkaufst.

    • Clemens Gleich meinte am 10. November 2023 um 10:54:

      Menschen, die uns Fortschritt gebracht haben, wollten immer irgendwas besser machen, oft Dinge, die sie selber ganz persönlich störten. Dass sie das konnten, liegt an allen, denn allein hätten sie neben Überleben keinen Raum gehabt.

      Ganz generell: Wenn wir die negativen Nebeneffekte unseres Wohlstands betrachten, müssen wir sie in den Kontext ihrer positiven Effekte stellen und beides gegeneinander abwägen. Wenn man nur den Auspuff eines Autos betrachtet, kann es nur scheiße sein. Die richtige Betrachtung ist „was bringt es mir, was schadet es mir?“. Die fehlt einfach oft. Das System ist viel besser als sein Ruf, und wenn man die negativen Seiten kritisiert, muss man sich auch der Frage stellen, wie es ohne z. B. Energieerzeugung oder intensive Landwirtschaft wäre. Meistens lautet die Antwort: schlechter.

  • TobiH meinte am 10. November 2023 um 19:54:

    Herrlich. Habe das eingangs erwähnte Video auch gesehen und konnte nur den Kopf schütteln. Arbeit ist eine Aufgabe im Leben. Aufgaben sind wichtig. Man muss sich nicht definieren, aber bestmöglich akzeptieren, dass Arbeit dazu gehört. Wenn du dann noch eine Arbeit hast, die dir wenigstens teilweise Spaß macht: Jackpot.

  • Sabine Welte meinte am 10. November 2023 um 21:20:

    Bedauernswert sind die Menschen, die fünf Tage in der Woche auf die letzten beiden – genannt ‚Wochenende‘ warten. Wirklich, echt, die tun mir leid! Wir leben im ‚Goldenen Zeitalter‘, von dem die Römer schon schrieben – zu dieser Zeit ging es dort einigen Menschen auch schon ganz gut. Das waren qber die wenigsten. Heutzutage geht es den meisten gut – viele merken es nur nicht. Bedauernswert. Sie merken nicht, dass sie bei sich selbst beginnen sollten und nicht die Verantwortung den anderen überlassen oder zuschieben sollten.
    Guter Gedankenanstoß, Clemens. Danke dafür.

  • Jürgen meinte am 10. November 2023 um 21:47:

    Nachdenkliche Zeilen, zum Nachdenken anregende Zeilen. Vor allem, wenn die vermeintliche Balance grad nicht so da ist.

    „Findet euren Platz im Wunder des Ganzen“ – das ist Klasse. Vielen Dank!

  • Mischam meinte am 11. November 2023 um 12:40:

    Danke, diesen Blickwinkel habe ich mal wieder gebraucht um zu kapieren, dass nicht alles auch nur halb so schlimm ist, wie ich es mir ausmale. Ich muss wohl mal wieder meine Gewohnheiten prüfen.

  • Thorsten Stephan meinte am 11. November 2023 um 14:22:

    Schade, dass es nicht die lesen, die eigentlich was angeht. Wieder sehr klug geschrieben. Respekt. Thorsten

  • Michel meinte am 12. November 2023 um 18:05:

    Wie so oft „on point“ 🙂

  • Johnny meinte am 13. November 2023 um 14:06:

    Gutes. Ich will schon lange was spenden hier, aber sträube mich vor Paypal. Tut‘s auch was zum Saufen?

    • Clemens Gleich meinte am 13. November 2023 um 16:57:

      Zum Saufen immer gern!

    • Clemens Gleich meinte am 15. November 2023 um 16:09:

      Der gute Grüne! Vielen Dank Dir!

    • Johnny meinte am 15. November 2023 um 18:01:

      Gerne. Zum Wohl!

  • Manfred meinte am 30. Dezember 2023 um 12:52:

    Arbeit hat einen Wert an sich, das muss sich die Generation Z erst noch erarbeiten 🙂 Ob es sich in D lohnt, wo die mächtigsten Steuereinnahmen überhaupt für alles Mögliche raus gedreht werden und der deutsche Michel anscheinen nicht seinem bürokratisch Wesen entkommen kann, muss jeder für sich entscheiden – einfach ist das für sie nicht. Nur eins ist für 2024 sicher – eine Steuererhöhung für die einkommensschwachen bis mittleren Einkommen,

    Wünsche dir einen entspannten Jahresübergang und für mich weitere Sinn stiftende Beiträge von dir, wenn ich hier 2-3/Jahr rein schaue. 😉

  • Miguel meinte am 16. Februar 2024 um 9:42:

    War kurz elf Jahre weg. Schön, dass ich hier mal wieder reingeschaut habe. Kluge Worte, hübsch aneinandergefüllt. Danke für den Denkanstoß!

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