Atomkraft war die Zukunft

Die Kernenergie ist die gewaltigste nutzbare Energiequelle der Menschheit. Als das sowohl im Krieg als Bombe wie danach in den Fünfzigern zur Stromerzeugung bewiesen war, begann die enthusiastische Traumzeit des Atomzeitalters, in der das nuklear angetriebene Auto als der selbstverständliche logische Schritt erschien. Hier ein paar Beispiele.

Es ist für uns heute als teilweise strahlengebrannte Kinder schwer nachvollziehbar, warum überhaupt jemand jemals unbedingt Atomreaktoren spazieren fahren wollte. Um die folgenden Fahrzeuge zu verstehen, sollte man sich also in die euphorische Stimmung damals versetzen. Die Kernkraft war neu, sie hatte gigantisches Potenzial und genau so, wie wir heute alles mit Internet machen, weil wir es können, weil es neu und aufregend ist, naja: genau so war das eben damals mit dem gespaltenen Atom. Der damalige Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke etwa schlug vor, man solle Saatgut bestrahlen, um Mutationen zu begünstigen – Mutationen, die zu besonders ertragreichen Arten führen sollten[1]. Atomkraft war die Rettung für die Staaten der Dritten Welt, der Schlüssel zum Weltfrieden gar. Wer keine Atomkraft wollte, war von gestern, und kernreaktorbefeuerte Autos schienen schlicht der nächste logische Schluss. Man kann in den letzten beiden Sätzen übrigens die Kernenergie mit zum Beispiel dem Internet vertauschen, um sich in fünfzig Jahren über heute zu wundern.

Simca Fulgur

Zweirädrig hinten, Luftkissen vorne, Frau in der Mitte (Bild: Simca)

1961 stellte die französische Firma Simca auf amerikanischen Automessen eine typisch französische Idee vor: Wir machen einfach alles anders, wie beim CS! Das Gefährt sollte mit zum Beispiel atomarer Energie zwei Hinterräder elektrisch antreiben. Die Front sollte ab guten 140 km/h über ein Luftkissen geschoben werden. Das ist natürlich instabil, also sollte ein stabilisierendes Gyroskop zum Einsatz kommen und die großen Finnen hinten sollten lenken und leiten. Auf die Idee von Vorderrädern mit dauerhaftem Bodenkontakt wollte Simca hier nicht kommen. Wie langweilig. Hatten ja alle, inklusive ihre eigenen Modelle. Weitere Besonderheiten: ein „Elektronengehirn“, das das Auto nach Fahrerbefehlen steuert, sowie ein Radar, vermutlich, damit das Elektronengehirn etwas sieht. Anders als der Citroen CS wurde der Fulgur trotz seines Gagaismus nie gebaut. Zum Glück, muss man ja sagen. Seine Fahreigenschaften wären noch schlechter als französisch gewesen, was zusammen mit französischer Zuverlässigkeit dazu geführt hätte, dass Europa heute von dreiköpfigen Mutanten mit Froschschenkeln als Augenbrauen bevölkert wäre.

Ford Nucleon

Pickup-Designlinie mit einem Reaktor-Flatbed. Auch nett. (Bild: Ford)

Fords Uranfreunde sahen 1958 in der Atomkraft eine Art Benzin 2.0: Jedes Auto sollte bald einen Reaktor haben, an Tankstellen sollte es entweder neues radioaktives Material geben oder einen neuen Reaktor, während der alte für den nächsten Kunden geladen wird. Ein bisschen wie das Modell der Tauschakkus, das heute durch die Köpfe geistert eben, nur mit massiv mehr Reichweite: 8000 km sollte eine Füllung reichen, eine Tatsache, die für sich gesehen der Grund für diesen Artikel ist, denn mein erstes Interesse an alternativen Atomantrieben begann, als ich eine Kawasaki ZZR 1400 auf Fusionsantrieb umrüsten wollte und dazu Präzedenzfälle suchte. Ein Auto, das einfach fährt und fährt und fährt und dessen Tankstops dann beim ohnehin fälligen Service schnell miterledigt werden können. Das Grundprinzip des Nucleon war das eines Atom-U-Boots: Der uranspaltende Reaktor verdampft mit seiner Hitze Wasser, der Dampf treibt mindestens eine Turbine an. Im Nucleon war eine Turbine über Drehmomentkonverter direkt als Radantrieb vorgesehen, eine zweite trieb einen Generator für den Bordstrom an. Das Betriebswasser sollte in einem geschlossenen System rekondensieren und somit im Kreis laufen. Die Passagiere sitzen übrigens vor der Vorderachse, weil das Reaktorheck mit seiner Abschirmung so schwer ist. Ford baute nur ein verkleinertes Modell vom Nucleon, das immerhin heute noch im Henry Ford Museum steht.

Ford FX Atmos

Design oder nicht sein, das war 1954 die Frage. (Bild: Ford)

Der Atmos war 1954 ein Konzeptauto, das vor allem den Designern freien Lauf ließ. Und die mochten, wie es scheint, Flugzeuge. Der Fahrer des Atmos saß wie bei einem McLaren F1 in der Mitte und steuerte mit zwei seltsamen Pistolengriff-Joysticks, die Beifahrer saßen links und rechts dahinter. Vielleicht die DVD vorausahnend sah Ford für die Beifahrer Bildschirme zum Draufgucken vor. Über den Antrieb machten sich die verspielten Designer weniger Gedanken als beim durchdachteren Nucleon, aber ein nuklearer war immer wieder im Gespräch. Es sollte ja eh nie gebaut werden. Real hatte der Atmos überhaupt keinen Antrieb. Er brauchte keinen, denn er musste nur als Konzept auf Messen stehen. Seine Gestaltungselemente jedoch, vor allem die Flossen, fanden sich tatsächlich in den fünfziger und sechziger Jahren im Serienbau. Ich sag nur: Elvis.

Ford Seattle-ite XXI

1962 Ford Seattle-ite XXI
Austauschbare Antriebseinheit und Navi: der Seattle-ite sah weit in die Zukunft. (Bild: Ford)

Was der Atmos für die Designer war, war der Ford Seattle-ite XXI für die technischen Visionäre: eine komplett freie Spielwiese. Natürlich musste das Concept Car nach Zukunft aussehen, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet war jedoch vor allem die technische Weitsicht von Ford geradezu Gibson-esque. Der Vorderteil des Wagens war abkoppelbar gedacht, damit man verschiedene Antriebe für verschiedene Einsatzzwecke mit demselben Hinterteil kombinieren konnte. Die Broschüre schlägt ein 60-PS-Pendlermodul und eines mit mehr als 400 PS für „transkontinentale Fahrstrecken“ vor. Das Triebmodul sollte seine Energie aus Brennstoffzellen oder einem kompakten Atomreaktor beziehen. Alle seine vier Räder sollten angetrieben sein, alle sollten mitlenken. Sechs Räder führen insgesamt zu besserer Traktion und Spurhaltung sowie zu besserem Bremsverhalten, sagt die Ford-Broschüre. Die Steuerung bestand aus leichtgängigen Joysticks an der Mittelkonsole. Das wirklich erstaunliche Zitat lautet jedoch:

A viewing screen would show engine performance characteristics, road and weather conditions, position of the vehicle in relation to an automatically rolling road map, and estimated time of arrival at any selected designation.

Ford beschreibt damit 1962 etwas, das heute in fast jedem Auto an fast derselben Position wie im Seattle-ite hängt: ein Navigationsgerät. Und sie beschreiben moderne Fahrzeuginformationssysteme. Jüngere werden hier gähnen, weil Digitaltechnik ein selbstverständlicher Part jedes ihrer Lebensabschnitte war. Heute geht man ja ohne mindestens 30 MIPS in der Tasche gar nicht mehr aus dem Haus. Damals jedoch waren die Leute schon froh, wenn es gelang, eine Flipflop-Schaltung auf Halbleitersubstrat zu krakeln. Fords Träumer hielten sich nicht damit auf, was möglich war oder was vielleicht mal möglich sein würde, sondern dachten, unbedarft wie William Gibson, daran, was cool wäre. Navis sind eingetreten, Autoinfosysteme ebenfalls, für austauschbare Antriebseinheiten gibt es gerade jetzt, bei den diskutierten seriellen Hybriden wieder eine Chance. Da könnte eine Brennstoffzelle die Energie liefern. Oder doch wieder ein Atomreaktor. Denn die Idee starb mitnichten in den sechziger Jahren:

Cadillac World Thorium Fuel Concept

Cadillac World Thorium Fuel Concept
WTF? Dieser Jubiläums-Cadillac sollte nur alle 100 Jahre tanken. (Bild: GM)

„WTF“ indeed. Das Akronym kann kein Zufall gewesen sein, ist es doch der erste Gedanke, der durch ökologisch korrekt sozialisierte Gehirne ging, als dieser Caddy-Entwurf Anfang 2009 die Runde bei den Autoseiten machte: What the fuck? Nun, ein GM-Designer ließ seinen Gedanken zum 100sten Geburtstag von Cadillac (oder besser: zum hundertsten Geburtstag von GM-Cadillac) freien Lauf – und diese Gedanken drehten sich offenbar nur um eines: Haltbarkeit. Der WTF sollte 100 Jahre lang halten, ohne Ersatzteile, ohne Nachtanken. Dazu zeichnete der Designer einen gut gekapselten Thoriumreaktor in das Fahrzeugheck, der das Auto in Fahrt und die ganze Nachbarschaft im Stand mit Energie versorgen könnte. Wohlgemerkt: für 100 Jahre, denn Fords Konzept von der atomaren Tanke an jeder Ecke konnte sich ja irgendwie nicht durchsetzen. Alle Komponenten sind redundant ausgelegt, auch die Räder. Das sind nämlich nicht vier breite, wie man auf den ersten Blick vermuten mag, sondern 24 dünne, an jeder Ecke sechs, jedes davon einzeln elektrisch angetrieben. Laut dem Designer sollten etwa alle fünf Jahre Einstellungsarbeiten daran fällig sein, aber keine Teile nötig. Ob Elvis sich so einen WTF gekauft hätte? Mal abgesehen davon, dass Elvis Caddies kaufte wie andere Leute Zigarettenschachteln: dieser hier sieht tatsächlich flashig genug für die Initialen „E.P.“ aus. Er macht mir außerdem Hoffnung darauf, dass ich doch noch meine Fusionsreaktor-Kawasaki kriege.

[1] Hier kam eben ein Brief rein, der daran erinnert, dass Bestrahlung zur Mutationsbegünstigung üblich ist. Wir haben darüber sogar damals in der Schule gelernt, genauso wie über Bestrahlung zur Haltbarmachung. Ich wollte eigentlich mit diesem Beispiel sagen: Wenn heute ein Landwirtschaftsminister sowas offen loben würde, flögen die faulen (weil unbestrahlten) Tomaten.

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