Horoskope von der weiten Linie

Wer Texter einmal richtig rudern sehen will, kann nichts Besseres tun als einen Reifentest zu lesen. Da stehen Dinge drin, von denen ich sagen würde: „Das ist diese ‚feinstoffliche‘ Welt, von der Esoterikspinner immer sprechen.“ Zarte Gespinste aus kaum erklärbaren Gefühlen kondensieren da in unsicheren Texten: Habe ich das wirklich erlebt? Wahrscheinlich schon. Aber was war der Grund, dass ich es so empfand? Hoffen wir, dass es irgendwie auch am Reifen lag.

Wenn Einer an eine Rennstrecke kommt, die er oft nicht kennt, auf einem Reifen, den er immer nicht kennt, mit einem Setup, das ein spanischer Händler vorgenommen hat, dann gibt es einfach insgesamt sehr viele Faktoren, die gleichzeitig ins Sensorium spielen. Dazu kommt das Wetter und meistens der fehlende Vergleich. Ist das wirklich besser als der Vorgängerreifen? Muss ja. Oder? Naja, ist doch wurscht, der Vorgänger hat schon gepasst. Wenn man nach dem Grundsetup ein Fahrwerk einstellt, soll man stets nur eine Stellgröße verändern, denn sonst weiß man am Ende nicht, wie man in das Chaos dieses völlig verstellten Bereichs hineinkam und wie es wieder hinausgehen könnte. Und genau in diesem Chaos finden Reifentests statt.

KTM 1290 Super Duke GT auf Pirelli Diablo Rosso III
Verirrt auf hoher See ohne Kompass, wie jedes Mal auf einer unbekannten Rennstrecke, wartete ich in Aragon darauf, dass mir der Reifen mehr erzählte als „bin noch kalt!“. Passierte halt ned. Aber ich hab ja Dings, Phantasie.

Ich bin mir sehr sicher, dass man den Teilnehmern beliebige andere Reifen ungefähr desselben Grip-Niveaus montieren könnte und keiner etwas merken würde, solange er Schrift und Profil nicht sieht. Die Eitelkeit diktiert, dass wir uns einbilden, sowas zu können, aber es ist halt Einbildung. Ich bilde mir vielleicht gelegentlich ein, einen Pilot Power vom anderen blind unterscheiden zu können, aber wie meine Einbildung, dass der Hund mich mag statt nur sein Fressen, haben solche Ideen halt in der kalten Realität keine längere Lebenserwartung.

Horoskope schreiben

Was also tun? Der mit so einer Aufgabe betraute Motorschreiber reagiert, indem er zu den Techniken greift, mit denen auch Horoskopschreiber ihren Tag bestreiten: plausible deniability, größtmögliche Vieldeutigkeit, gewürzt mit Textrosinen, die Fakten täuschend ähnlich sehen, ohne welche zu sein. Dieser Brei wird um die unbestreitbaren Fakten gezimmert, die in der Broschüre stehen. „Durch den Silica-Anteil von 70 Prozent baut der Reifen auch bei Nässe viel Grip auf.“ Das war einfach. Wie der Horoskopschreiber arbeitet auch der schlaue Reifenwahrsager mit Textbausteinen, die sich immer wiederholen. „Vertrauen“ baut der Reifen neben Grip auf, „vom ersten Meter an“. Er „drängt auf die weite Linie“, wo auch immer die verläuft. Das „schwarze Gold“ muss rein, genauso wie die „Lebensversicherung“, auf ihren Kontaktflächen, klein wie ein Blafasellaber.

Nach dem Sturz wird der einstige heilige Alleskleber ein Drecksfetzen aus Holz und Kot.

Ich habe eine sadistische Ader und spiele daher nach Erscheinen all unserer Artikel gern Reifentest-Bullshit-Bingo, das so funktioniert wie eigentlich jedes Bullshit-Bingo, nur dass ich einen Vorteil habe, weil ich ja vorausschauend selber Bullshit streute. Aber damit hat sich der Nutzen des Tests schon erschöpft. Wirklich interessant ist bei neuen Reifen doch nur, wie er zu meinem Fahrzeug passt. Kann man zum Beispiel in der Dauertest-Rubrik abfrühstücken. Ich würde jetzt gern sagen, dass diese Art von Test toll ist und viel verrät, aber da musst du nur in ein Markenforum gehen, um zu sehen, dass das nicht stimmen kann. DEN Reifentipp gibt es nicht einmal für ein konkretes Fahrzeugmodell. Jeder hat eine andere Meinung zum besten Reifen, und wenn der ihn einmal im Stich lässt, ändert sie sich sofort, dann ist der heilige Alleskleber fürderhin ein Drecksfetzen aus Holz und Kot. Es bleibt das vage Präferenzen vergleichen, das bei Musik hilft: Wenn Redakteur X diesen Song gut fand, fandest du ihn bisher auch meistens gut. Könnte man probieren. Wie bei jedem anderen Test der Art „wie ich das erlebt habe“ halt auch.

Es wird immer Präsentationen geben

Man könnte es auch ohne Reifenpräsentationen probieren. Aber das wird nicht passieren. Die Reifenhersteller arbeiten an einem modernen Sportreifen lange und wollen dann zeigen, was sie da geleistet haben, wie bei vielen anderen Dingen auch. Das ist verständlich, weil menschlich. Und wir Reifenwahrsager, wir wollen Schnittchen fressen und rumfahren, das ist auch irgendwie nachvollziehbar menschlich. Ich weiß ja, dass da nichts Sinnvolles bei rumkommen kann und war trotzdem wieder beim Reifen *a-hust* testen. Aber ich hatte halt Lust, mal die Rennstrecke Aragon zu fahren. Wenn ich dafür von arschgemessener Eigendämpfung und dem Aufstellmoment phantasieren muss, ist das ein annehmbarer Preis.

BMW S 1000 RR auf Pirelli Diablo Rosso III
Ich texte: „Schmackofatzige Nassgrip-Eigendämpfung voller Vertrauen, aber ohne Aufstellmoment liefert der neue Diablo – und harmoniert sehr gut mit einer modernen Traktionskontrolle!“ Fertig, ab an die Feierabendbar!

Nein, die Industrie, zu der ich jetzt auch die Presse zähle, die mag ihre Reifenpräsentationen. Es kann also nur um dich gehen, den Leser. Ich möchte dir zwei Dinge an die Hand geben. Erstens ist der Pirelli Diablo Rosso III ein Reifen, der glaube ich ganz gut ist, um die Gesamtheit meiner echten Erkenntnisse zusammenzufassen. Und zweitens solltest du die gelegentlich auftretenden Artikel über Reifenpräsentationen behandeln wie eine Anzeige: Es gibt dieses Produkt. Ich schaue grad, ob es den neuen Pirelli für die Ninja gibt und werde berichten, wie er da funktioniert. Aber ich hoffe, mein Gelaber hat eines deutlich gemacht: Auch dieses Ergebnis kann nur meine Meinung sein. Du könntest eine andere haben.

Kommentare:

ältere
  • Mumpitz meinte am 8. April 2016 um 15:07:

    Immerhin vermitteln die großen Reifenvergleichstests eine Übersicht über die neuen Pellen, außerdem hübsche Bilder von kaltgefahrenen Schräglagen auf fremdversicherten Vollausstattern in Regionen, die normalsterblichen Hausstrecken-Trödlern eh nie unter die Räder kommen und somit einiges an tendenziösem Augenfutter und stammtischthesenreifes Unwissen.

    Ich gestehe, ich blättere derart Texte gerne auf dem Arbeitsweg
    durch und phantasiere, statt in der S-Bahn, auf einer mäßig sonnigen Werbeveranstaltung Horoskope erfahren zu dürfen…

  • Volker meinte am 9. April 2016 um 21:51:

    Servus Clemens!

    Echt jetzt, ihr Reifentestheinis und Mojo-Schreiberlinge habt NICHT den Kammschen Kreis in Mikrogranularität ausgefahren und gebt die Ergebnisse in einer wohldefinierten Zeugnissprache wieder? Das erschüttert mich jetzt schon. Echt wahr.

    Ahem. Deinen Äußerungen kann ich, Asche auf mein Haupt streuend, hinzufügen, daß der Umstieg vom mit 12 Jahren nicht mehr ganz taufrischen Metzeler MZ4 auf einen neuen Michelin Pilot Power 150/60R17 an der 1998er KTM „Sempre Competizione“ sogar für mich eine gewisse Änderung im grenzwertigen Haftungsverhalten erahnen ließ. Speziell auf nassen Straßen. Und, ja, der Powerpilot erzeugt lustige schwarze Schräglagenstreifen, wenn man ihn im Neuzustand gleich fordert.

    Fazit: Ich sollte Reifentester werden. Denn dann kriege ich endlich auch mal ein anderes Murl unter meinen Arsch als einen Schraubensack, der bei 140km/h statt Spaß eher Mitleid erregt.

    Ciao,
    Volker

  • Boxerlust meinte am 27. Juli 2016 um 19:09:

    Ich warte immer noch auf den Vergleich von sogenannten Sport- und Tourenreifen.Wieviel besser haftet ein Sportreifen wie der M7 oder SA3 im Verleich zu einem R01 bzw RA2Evo ermittelt anhand Kurvengeschwindigkeit/Grad Schraeglage in einer schnellen Kurve und wieviel teurer kommt der Spass (Ermittlung der Laufleistung).Das waere mal ein interessannter Reifentest !

  • Volker meinte am 30. Mai 2023 um 9:16:

    Oh. Schon wieder über sieben Jahre her! Kinder, wie die Zeit vergeht.

    Ich habe eben wieder zwei Pilot Power montiert. In 120/70R17 und 150/60R17. Mit Schlauch. Pirelli Heavy Duty. Vorne die große Wahl der Qual, ich habe 110/70, 120/70, 120/65 und 120/60 im Schein stehen und tiefschürfend analysiert: Aufstandsfläche, Hebelgesetze, Querschnitt, Eigendämpfung, Seitenführung in Schräglage, Reifenkontur, Preis. Und mich schließlich für 120/70R17 entschieden. Es mußte eben ein Kompromiß gefunden werden.

    Der Griff zur Michelin Dual Compound Technology (2CT) natürlich, weil sie mit einer optimalen Gummimischung einen exzellenten Grip auf trockenen und nassen Straßen ergibt. Stabilität bei Geradeausfahrt und in der Kurve mit einer nicht zu spitzen Kontur für präzises aber nicht vervöses Einlenkverhalten standen natürlich ganz oben im Lastenheft, insbesondere meiner hochmotorisierten KTM 620 „Sempre Competizione“ mit ihren 55PS.

    Äh. Ja. Und weil der Michel so ziemlich der einzige Reifen ist, den man hinten noch in 150mm kriegt und sich nicht nach fast einem Jahrzehnt des Nichtstuns in Holz verwandelt. Ich habe ihn gestern auf der Rennstreck^W^W^W im Kreisverkehr ausgiebig getestet und dessen Schräglagefähigkeit geht deutlich über meine fahrerische Kompetenz.

    Das reicht mir.

    • Clemens Gleich meinte am 8. Juni 2023 um 18:03:

      Aber drängt er auch schön auf die weite Linie?!

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