Test Aprilia RSV4 Factory APRC SE 2011

Das fahrende V4-Kunstwerk von Aprilia war schon immer einzigartig. Für die Factory Speciale rüsten die Italiener es mit Traktionskontrolle, Wheelie-Kontrolle und Launch Control zur vollwertigen Playstation auf.

Wer problemlos fahren will, holt sich einen japanischen Reihenvierzylinder — zum Beispiel von BMW. Wer sich anders fühlen will, sowohl beim Diskutieren, als auch beim Fahren, kauft sich einen der vielen italienischen Zweizylinder — zum Beispiel von Suzuki. Und wer ein in jeder Hinsicht wirklich einzigartiges Erlebnis sucht, dem bleibt nur die Aprilia RSV4. Jetzt kommt eine neue RSV4 Factory heraus, zur gewonnenen Superbike-WM im Biaggi-Italien-Dekor, was mir eine gute Ausrede gibt, wieder über dieses Motorrad zu sprechen, das keiner haben will: Es ist grandios. Das zeigt mal wieder, wie schwer es ist, egal was außerhalb des Mainstreams zu verkaufen. Selbst ich würde keine RSV4 als Motorrad wollen, weil ich täglich fahre, weil ich ein verlässliches Motorrad brauche (ich fahre daher ironischerweise die in diesen Punkten viel bessere Aprilia RSV Mille). Aber so wie ich fährt ja sonst niemand. Nein, die meisten fahren sich alle zwei Wochenenden mal richtig schön das Hirn aus dem Kopf — im positiven Sinn gemeint. Und dabei kommt es nicht darauf an, dass das Motorrad fünf Liter auf 100.000 Lebenszeitkilometer verbraucht, sondern es kommt darauf an, wie sehr das Motorrad einen packt und anschreit. Und, man glaube mir das einfach, das ist die Paradedisziplin der RSV4. Uns‘ Nachwuchsraser Toby hat da mehr Mut als ich, er will sparen und sich nächstes Jahr eine kaufen — obwohl er viel fährt. Spritverbrauch? Pleuelbruch? Alles egal! „Ich habe nur ein Hobby. Ich leiste mir das.“ Coole Sau.

Die RSV4 ist ein Erlebnisurlaub an und für sich.

Als die RSV4 Factory 2009 in Misano vorgestellt wurde, schrieb ich über den Artikel „Pure Pornographie“ drüber. Es ist schon lange kein Motorrad mehr herausgekommen, das derart krass Materialmasturbation mit einer Optik zum Darniederliegen (und rubbeln) kombiniert. Dieser offene Maschinenbau, drapiert mit ein paar Fetzen Verkleidung! Diese hündisch aggressiv gefletschten Ram-Air-Lefzen! Wen das kalt lässt, der hasst das Supersportsegment an sich. Später, am mich unsäglich verwirrenden LuK Driving Center bei Baden-Baden (Baden Airpark) stellte sich das so dar: beständiges Gewittergrollen, wie eine Gewitterwolke, die immer um die Strecke fährt. In der Startaufstellung läuft einem mitten in der Wolke eine Gänsehaut den Rücken runter, und im Kurvengeschlängel des letzten Streckenabschnitts gibt es einen Resonanzbereich in meinem Helm, der das Gewitter direkt in den Kopf holt. Ein seltsam intensives Erlebnis. Ja, das Motorrad hat weniger Leistung als die anderen 1000er, doch es ist knackekurz. Bei Vollgas auf der Gegengeraden hebt es im Dritten bei Vollgas den schüttelnden Kopf, wie ein Pferd, das nicht weiß, wohin mit seiner ganzen Energie. Es wirkt fröhlich, es wirkt fast lebendig. Hätte ich nur gelegentlich Gelegenheit zum Fahren, würde ich die RSV4 jedem tumben Sparkrapfen vorziehen. <- Man bemerke auch hier den Konjunktiv.

Am linken Lenker, diese von der Mana übernommenen Buttons, die steuern während der Fahrt die Traktionskontrolle.

Und jetzt die neue Factory Speciale. Man sitzt auf diesem kurzen kompakten Krad wie bei der ersten RSV4 immer noch wie auf einem dieser überzüchteten Muskelhunde. Alle Masse, alle Kraft konzentriert sich um die Mitte. Dabei knurrt sie ihr ständig unterfordert wirkendes Verbrennungsgeräusch in die Welt, das einen praktisch überall schneller macht, als man sich vorkommt. Wo auf dem Screamer-Vierzylinder die Drehzahl wie ein Bohrer ins Hirn arbeitet, um dort „du bist so schnell!“ zu schreien, rollt die RSV4 an sowas außen vorbei und grummelt „du bist so langsam, ey!“. Die wichtigsten Neuerungen an der Speciale sind jedoch ihre elektronischen Spielereien, zusammengefasst im Akronym „APRC“, denn wie Aprilias Marketing-Chef richtig bemerkt: „Elektronik im Supersportsegment hat sich in kurzer Zeit von einem Makel zu einem echten Verkaufsargument entwickelt.“ Und an Elektronik haben sie anzubieten:

Traction Control:

Wie bei der BMW S 1000 RR misst ein Bosch-Sensorcluster die Winkelgeschwindigkeit über zwei orthogonal angeordnete Schwingungsgyrometer plus die Längsbeschleunigung (der Querbeschleunigungssensor im Cluster wird aktuell nicht verwendet). Aus diesen Daten errechnet die Motorbox die Schräglage gegen den Horizont, überhöhte Kurven oder Hanging-Off werden also vernachlässigt hierbei. Wer in diesem Absatz übrigens bis jetzt kein Wort verstanden hat, soll mir bitte schreiben, vielleicht poste ich dann ganz viele erklärende Absätze über Gyrometer, die außer Thorsten Durbahn kein Mensch versteht, wie ich das zum Beispiel in MO 2-2010 getan habe.

Zusätzlich wertet die Traktionskontrolle die Raddrehzahlen aus, die es über diese induktiven Lochkränze ermittelt, die auch bei ABS eingesetzt werden. Typische Gradienten in der Differenz stehen dann für beginnenden Schlupf am Hinterrad. Die Motorbox macht dann die elektronisch gesteuerte Drosselklappe etwas bei, um das Drehmoment des Motors zu reduzieren. Für sehr schnelle Reaktionen ändert sie auch die Zündwinkel, in mehr als 95 Prozent der Fälle reicht jedoch die Steuerung über die Drosselklappen — wie es ein menschlicher Fahrer bei Schlupf eben auch ausregelt. Das macht diese Traktionskontrolle sehr weich, unauffällig im Fahren. Da hustet selbst bei gröbst grobmotorischen Fehlern niemals etwas, wie das bei früheren Systemen noch der Fall war. Beim in tiefer Schräglage Gas aufreißen kommt einfach kaum Leistung. Richtet man das Motorrad bei konstanter Gasgriffstellung aus dem Regelbereich auf, gibt es sehr schnell sehr viel mehr Schub, weil der (gemäß unserm Kamm‘schen Kreis) so schnell wieder da ist. Es lehrt einen die erstaunliche Menge an verfügbarer Kurvenausgangstraktion. Die mittleren Settings sind recht narrensicher für trockenen Belag, die oberen geben vielleicht Vertrauen, wenns regnet. Will man einen anderen Reifen als den originalen 200er Pirelli 3ZC fahren, kann man das System auf den veränderten Abrollumfang einlernen.

Der Bosch-Sensorcluster mit den zwei Schwingungsgyrometern und den zwei Beschleunigungssensoren sitzt wie bei BMW unterm Sitz.

Besonderheit der Bedienung: Aprilia sieht einen Bereich vor, in dem das System bereits regelt, aber mehr erlaubt. Öffnet der Fahrer dort weiter die Drosselklappen (oder erhöht die Schräglage) interpretiert die RSV4 das als Wunsch, den Schlupf etwas zu erhöhen — bis zu einer Maximalgrenze. Die Eingriffsstärke ist am linken Lenkstummel in acht Stufen während der Fahrt einstellbar.

Wheelie Control:

BMWs Superbike weiß anhand der Raddrehzahlen, ob das Fahrzeug gerade wheelt und regelt das aus. Dieser Vorgang ist allerdings recht grob. Im „Slick“-Setting beschwerte sich Fastbike-Kollege Dirk Schnieders zum Beispiel, dass die BMW nach den fünf erlaubten Wheelie-Sekunden das Vorderrad etwas unsanft wieder auf den Asphalt knallt. Aprilia verwendet stattdessen eine dreistufig einstellbare, abschaltbare „Wheelie Control“, die den Längsbeschleunigungssensor verwendet, um Wheelies sanft abzusetzen. Natürlich kann die RSV4 damit nicht wissen, ob der Fahrer jetzt weiter vorne oder hinten sitzt, daher wird der Wheelie unterschiedlich hoch, doch auch dieses System regelt — zumindest bei meinen lulligen Gaswheelies — bemerkenswert sanft und angenehm.

Launch Control:

An der Ampel gegen eine Kardan-GS abgestunken? Vielleicht hilft diese Technik. Ein perfekter Start ist schwierig, weil für die maximale Beschleunigung das Rad ganz knapp auf oder über dem Boden bleiben muss. Auf den ersten Metern regelt der Fahrer üblicherweise also Kupplung, Drehzahl, Gewicht und Gasgriffstellung gegeneinander aus für einen perfekten Start. Der passiert jedoch oft nicht, sodass selbst Rennfahrer immer wieder Starts üben. Aprilias Launch Control nimmt das Wheelen am Gas und das Einregeln des Motors am Anfang aus der Gleichung: Launch Control einschalten, Gasgriff auf Anschlag drehen. Der Motor regelt sich dann je nach Setting (3 gibts) bei 10000 oder 11000/min ein. Dann einfach Kupplung kommen lassen und gut festhalten. Bei mehr als 160 km/h oder im dritten Gang schaltet sich die Launch Control ab. Ich fahre ja manchmal Messwerte inklusive Beschleunigung und habe daher das Gefühl, ohne ist man schneller. Aprilia sagt, man spart ohne die Launch Control im schnellsten Setting nur ein Zehntel auf 100 km/h, verliert aber die Konsistenz. Fakt ist, dass man dieses System erlernen muss. Von drei Starts habe ich zum Beispiel zwei verkackt: das Rad ging hoch, der Motor muss stark abregeln, die Zeit ist Murks. Zu langsam einkuppeln macht jedoch auch zu langsam. Die Launch Control ist definitiv kein Sicherheitshilfssystem, sondern ein zu erlernendes Tool für die Rennstrecke — oder für die Ampel mit der Kardan-GS.

Quality Control:

Ja, Aprilia ist seit der Piaggio-Übernahme ein Graus für deutsche Fahrer. Zu unzuverlässig sind ihre Maschinen, zu eigen, zu durstig, zu … ja: undeutsch. Mit der neuen Factory werden einige Sachen etwas besser werden, zum Beispiel der Spritverbrauch. Eine BMW oder gar ein japanisches Superbike ist es jedoch nicht. Im Gegenteil hat es Aprilia geschafft, unter Piaggios Dach ein komplett eigenständiges Fahrzeugportfolio zu bauen, was eine ziemlich schwache (Aprilia sagt: „damals tote“) Marke aktuell (für mich) erfrischend wiederbelebt. Schade, dass jeder zwar sagt, er steht auf „individuell“, in Wirklichkeit jedoch damit eine namensbestickte Sitzbank auf seiner Suzuki Bandit meint. Daraus folgend: Schade, dass keiner die RSV4 kauft. Bis auf Toby. Die coole Sau.

Okay, wer findet das nicht geil? Bitte Puls auf Vorhandensein prüfen.

Aprilia RSV4 Factory APRC SE 2011

Ist: ein Playstation-Controller für einen italienischen Erlebnisurlaub.
Kostet: 22.490 Euro
Leistet: 180 PS (132 kW) bei 12.250 U/min
Stemmt: 115 Nm bei 10.000 U/min aus 1000 ccm
Wiegt: 211 kg vollgetankt
Tankt: 17 Liter Super
Hat: alles unter Kontrolle: die Traktion, die Wheelies, die Rennstarts und Tobys Herz bald auch.

Bilder: Werk

Kommentare:

ältere
  • Der-Alte Griesgram meinte am 1. Dezember 2010 um 9:46:

    Nichts gegen die Priller, ich würde gerne mehr davon auf unseren Straßen sehen, aber:
    Wie wintertauglich ist das Ding? Meine 12er Ninja ist es nicht, wie ich jetzt festestellen musste, daher brauche ich ein Wintermopped. Wie schnell bin ich mit der Traktionskontrolle auf eine festgefahrenen Schneedecke? Schneller als ein Allrad-Audi? Eine Kardan GS sehe ich nie im Winter. Wie Rostanfällig ist die Kiste bei dem massiven Streusalzeinsatz auf bubdesdeutschen Autobahnen?

    Das sind die Dinge die ich wissen will.

  • Clemens Gleich meinte am 1. Dezember 2010 um 10:37:

    „Wintertauglich“! MWAAhAHAHAHAHAA!! … Sorry. Nüchterner: Eine aktuelle Aprilia würde ich im Winter nicht fahren. Ich erinnere mich da auch an die Shiver. Eine 12er geht doch gut für den Winter, guter Wetterschutz. Nur bei geschlossener Schneedecke brauchste ‘ne KLX oder sowas: klein, günstig, mit etwas Profil und robust.

  • Der-Alte Griesgram meinte am 1. Dezember 2010 um 17:35:

    Nein, die 12er ist leider nur sehr bedingt Wintertauglich. Wetterschutz ist da, aber für gesclossene Schneedecke und Glatteis ist einfach zu viel Leistung ab Standgas am Hinterrad. Da war die TL1000s deutlich besser, zumindest bis ca. 3.000 U/min

  • Michael meinte am 2. Januar 2011 um 8:10:

    Hi! ich hatte schon 7 Aprilias. Echt, gerade hab ich nachgezählt. AF1, Pegaso, Shiver, mehrere RSV´s. Alle waren richtig schnell. Alle hatten ein Top Fahrwerk. Alle haben einen Haufen Sprit verbraucht, vergleichsweise!

    Aber – keine war unzuverlässig. Noch nicht mal die Shiver, im Gegenteil. Die lief bei mir über 20 TKM ohne Probleme. Nur der Ölfilter war mal undicht, gabs auf Kulanz einen neuen beim Freundlichen. Auch im Shiver Forum liest man nichts nennenswert anderes.

    Was ich sagen möchte: Ich bis sicher, die RSV4 der neuesten Generation ist einfach nur der Wahnsinn. Kommt irgendwann her. Gruss Michael

  • Clemens Gleich meinte am 2. Januar 2011 um 15:28:

    Das überrascht mich. Meine Probleme mit der Shiver habe ich auch bei anderen gefunden, zum Beispiel bei Lesern, die anriefen. Wie viele km warens denn auf der Shiver? Probleme beim MO-Dauertester waren: Hall-Geber für den Tacho defekt (mehrfach), Startschwierigkeiten (immer wieder, unter 1°C startete sie gar nicht mehr), undichte Ausgleichsbehälter (auch mehrfach repariert) und Motor am Ölfilter undicht. Laufleistung ca. 15.000 km.

  • Chris G. meinte am 4. Januar 2011 um 3:31:

    Die Italiener lernen‘s nie.Da bringen sie endlich die Traktions-Kontrolle und auf das ABS muss der Kunde noch bis zum MJ 2012 warten…:-(
    Die S1000RR wird wohl noch ein weiteres glueckliches Jahr erleben.
    Mal sehen ob Biaggi auch 2011 ohne die Nockenwellen-Schummelei mit Kettengetriebenen Nockenwellen in WSB weiter gewinnen kann…?

  • Test Aprilia Dorsoduro 1200 ABS » Ist , Kostet, Leistet , Stemmt, Wiegt, Tankt » Motorrad News Blog meinte am 21. Januar 2011 um 10:59:

    […] über 200 fahren wollen, Leder tragen. Unschlüssig bin ich mir über die Qualität. Einerseitsschrieb mir gerade ein Aprilia-Kunde zur RSV4, dass er auch auf den neuen Modellen der Piaggio-Ära …. Andererseits: Wenn ich schon sehe, wie da diese Leitungen mit Bremsflüssigkeit und Öl da auf der […]

  • Klaus meinte am 5. Mai 2011 um 12:33:

    Nicht nur Toby die coole Sau kauft diese bella maccina . Auch meine alte Mille wird nächstes Jahr gegen ne bella RSV4 eingetauscht .
    Die Linke zum Gruss

    Klaus

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