The Unexpected

Obwohl ich ja schon mehrmals im Leben längere Zeit auf dem Land lebte, springt mich gerade immer wieder Unerwartetes an. In Stuttgart hatte ich ja kein Auto, weil es mir zu blöd war mit den Parkplätzen. Aber Stuttgart ist ein einziger Komfort-Parkplatz im Vergleich zu Bad Mergentheim oder Tauberbischofsheim, den zwei nächsten Kleinstädten. Überhaupt ist das Parken mit dem Auto ein Dauerthema. Meine Frau fährt trotz herbstlichem Regenwetter mit der Ninja in die Schule, weil die Lehrer dort keine Parkplätze mehr kriegen, wenn sie nach 7:00 Uhr früh ankommen (die Stadt gesteht der Schule keine eigenen Parkplätze zu). Aber selbst im hintersten Kaff wird es enger mit dem Parken. Aktuell wohnen in unseren Haus noch 4 Personen. Vor der Doppelgarage stehen 3 Autos. In der Garage stehen 2 Motorräder und ein Roller. So schaut es anderswo dauerhaft aus, wo die Kinder zum Beispiel auf dem Grund der Eltern neu dazu bauen. Die KBA-Daten des stetig weiter steigenden Bestands zeigen sich hier in ihren realen Auswirkungen. Natürlich werden bei uns 2 Autos mit den Vorbesitzern Ende Oktober gen Norden ziehen, aber ich wollte ja einen VW e-Up kaufen für den Nahverkehr. Dann stünde da unten wieder recht viel rum. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich einfach weiterhin nur die Duke habe (den Zoomer habe ich noch in Stuttgart verkauft) und die Ninja und die C-Klasse meiner Frau für Fahrten zu zweit (die Duke R hat serienmäßig keinen Beifahrersitz).

Es erstaunt mich generell, wie viel man im Auto herumhockt, nicht nur auf Parkplatzsuche. Mein Kaff ist winzig. Dennoch läuft hier außer mir niemand auch nur bis zum Wirtshaus, das sind 500 Meter. 500 Meter sind so kurz, dass du mit dem Auto mit Einsteigen, Gurt fummeln, fahren und einparken in etwa die selbe Zeit brauchst wie zu Fuß (Tür zu Tür). Wenn man langsam läuft, können es zu Fuß auch 10 Sekunden später sein als mit dem Auto – nichts Signifikantes. Der Weg ist auch nicht irgendwie beschwerlich. Wir haben sogar einen Bürgersteig an der Straße, den gibts auch nicht in jedem Dorf! Ich habe mal eine Studie gelesen, dass Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Übergewicht trotz Garten und frischer Luft auf dem Land stärker vertreten sind als in der Stadt – einfach, weil man mehr herumsitzt. Heute arbeiten auch auf dem Land die meisten Leute in Büros. Also sitzen Ländler im Büro und dann länger als der Städter im Auto und dann daheim. Als typisches Essen dazu gibt es hier frittiertes Hähnchen mit Pommes. Das ist ganz lecker, aber wahrscheinlich auch nicht das, was ein Arzt als Dauerkost empfehlen würde. Zum Gegengewicht kommt eine Affenschaukel in den Garten, an der ich das ganze Jahr über schwingen werde wie ein Orang-Utan und ich mache gerade alle Gartenarbeit mit der Hand, statt mir Maschinen zu kaufen. Sensen zum Beispiel finde ich regelrecht meditativ, auch wenn es im aktuellen Gestrüpp mit mehr Weißdorn als Gras mit der Forstsense anstrengender ist als beim Gras schneiden in der Ebene.

Not-To-Do-List

Jeder weiß wahrscheinlich, dass die Landbevölkerung konservativer ist als Menschen in der Stadt. Die praktischen Konsequenzen dieses Allgemeinplatzes erfährt man jedoch erst vor Ort. Hier gehen die Leute am Sonntag noch in die Kirche. Ein Kollege vom Fechten hat sein Kind zumindest „gesegnet“, damit es im Dorf nicht ausgegrenzt wird, bevor es später selber die Gretchenfrage für sich entscheidet. Jetzt im Oktober werden jeden Abend in der Kirche Rosenkränze gebetet, denn der Oktober ist im kirchlichen Kalender der „Rosenkranzmonat„. Wenn hier jemand sagt, dass er „nicht gläubig“ ist, meint er meistens, dass er kaum in die Kirche geht. Den persönlichen Glauben an sich findet er fast immer dennoch sehr wichtig. Meine Frau hat sich in der Schule als Atheistin geoutet, was viele Fragen nach sich zog, auch von den Schülern (egal ob Christen oder Moslems). Sie hat (gegen mein sehr explizites Briefing) außerdem den Faux-Pas begangen, die fränkische Kultur (das Baden-Württemberg zugeordnete Tauberfranken gehört kulturell zu Franken) als „schon sehr bayrisch“ zu bezeichnen. Stille. Ärger. Maßregelung. Das erfordert schon Umgewöhnung nach dem gottlosen Stuttgart, in dem die Kirchen hauptsächlich als gut getarnte Mobilfunk-Transponderträger interessant sind und die Zugehörigkeit zu Kulturregionen egal. Hier dagegen interessiert es bereits, aus welchem Dorf die Familie kommt.

Was ich vorher nie auf dem Schirm hatte: Die wahre Natur eines Dorf-Stammtisches. Da treffen sich halt die alten Männer und saufen, dachte ich immer. Ist auch so. Aber eben nicht nur. Der Stammtisch ist wie das Dorf-Darknet: Alle Infos, die zur Dorfgemeinschaft nicht im Internet stehen, die du aber brauchst, gibt es hier. Wer, wann, wo, was. Nagelprobe: „Tischlupfen“ bringt auf keiner Suchmaschine ein Ergebnis, das dir erklärt, was das sein könnte. Anders als im Darknet gibt es keine technische Hürde (man muss nicht einmal Alkohol trinken), sondern eine soziale: Wer da hocken will, wo die hocken, die immer da hocken, der muss ein Mindestmaß an Offenheit und Freundlichkeit mitbringen. Mir gefällt das sehr gut. Mehr Sozialleben außerhalb des Internets.

Mein Beruf erntet zwischen Schreinern und Maurern natürlich eher Erstaunen als Respekt. Aber am Stammtisch sitzt noch ein Journalist einer Lokalzeitung. Werde ihn gelegentlich fragen, wie er von der Arbeit erzählt – eine Information, die es auch nur am Stammtisch gibt. Eines ist natürlich klar: Ich muss sehr vorsichtig sein, was ich schreibe. Auf Betrüger im VW-Management kann ich beliebig einschlagen. Aber welches Auto mein Nachbar hat, unterliegt schon der Geheimhaltungsstufe BIER-1. Die Landeier wissen, was ich meine.

Kommentare:

ältere
  • Marcus Lacroix meinte am 10. Oktober 2019 um 11:41:

    LOL – jaja, das Landleben. Merke: man muss nicht mitmachen beim Stammtisch und beim Beten. Aber wenn du dich entscheidest mitzumachen, dann keine halben Sachen!
    Ansonsten hält man sich aus Diskussionen besser raus (lokalpolitische sowieso) und persönliche Dinge outet man höchstens auf Nachfrage. Ball flach halten, lächeln und sich am schönen Zuhause erfreuen 🙂
    Ich hatte mich gegen die Teilnahme am Dorfleben entschieden und nach einigen Jahren gewöhnen sie sich dran, man wird nicht mehr gefragt und trotzdem gegrüßt.
    Am Stadtleben nehme ich jetzt auch nicht teil, gegrüßt wird in der Stadt aber deutlich weniger… 😉

    • Clemens Gleich meinte am 10. Oktober 2019 um 11:58:

      Ich MÖCHTE ja am Dorfleben teilnehmen, denn die Leute hier sind sehr nett. Habe eben das Auto auf die Straße gestellt, weil hier ein Container angeliefert wird. Frau spricht mich vom Balkon an. Ich denke, jetzt schimpft sie. Nein. Sie bietet mir ihre Doppelgarage an, die seit dem Auszug der Kinder leersteht. Mit solchen Leuten red ich jederzeit gerne.

  • TH@MF meinte am 10. Oktober 2019 um 11:49:

    Jaja, das Landleben hat so seine Tücken. Der eingeschränkte Bewegungsdrang der Dörfler erschließt sich mir auch nach drei Jahren nicht – denn auch im NRW-Dorf wird ALLES mit dem Auto erledigt. Aus meiner Erfahrung – einfach freundlich Grüßen hilft, schlichtweg jeden. Aufgrund der vielen verschiedenen Fahrzeuge wird man früher oder später eh angesprochen. Gleichfalls war unser Hund sehr hilfreich beim socializen … sollte bei euch auch funktionieren 😉

  • Thorsten Stephan meinte am 10. Oktober 2019 um 12:06:

    In allen Punkten volle Zustimmung. Genauso ist das bei mir am Rand der Eifel auch. Die Stammkneipe gibt es hier nicht mehr. Aber es gibt ja noch Kirmes und Karneval. Beides Veranstaltungen, wo ich mich fern halte. Als wir vor 20 Jahren hier unser Holzhaus (Holzständerbauweise) errichtet haben, war wir die Attraktion des Dorfs. Moschee, Taubenschlag oder Bretterbud… so hiess unser Domizil bei den Einheimischen. Inzwischen ist es das „amerikanische Haus“ – keine Ahnung, warum. Echte Freunde hab ich im Dorf keine gefunden. Die kommen alle aus den umliegenden Städten Köln und Düsseldorf. Trotzdem lebe ich gerne hier. Denn weil ich eine Einheimische geehelicht habe, werde ich wohlwollend gedulded und auch gegrüßt. So ist das eben als Immi im Rheinland.

  • Dirk Klatt meinte am 10. Oktober 2019 um 13:00:

    Hier in Schleswig-Holstein ist es ähnlich. Wir haben in der Dorfmitte noch einen Kaufmann und praktisch jeder fährt ihn mit dem Auto an und wenn es 100 Meter sind. Mit dem Beten haben es die Nordlichter nicht so, hier ersetzt die Freiwillige Feuerwehr die Religion. Bemerkenswert sind aber die Unterschiede zwischen den Dörfern. Vielfach sehr „weltoffen“ und Neuankömmlinge werden sofort assimiliert wie in meinem Dorf und dann gibt es wieder Dorfgemeinschaften, die partout unter sich bleiben wollen. Stadtleben kann ich mir kaum mehr vorstellen und ich bin jeden Tag froh, wenn ich nach Feierabend Sailing City Kiel wieder verlassen darf.

  • Frank Kemper meinte am 10. Oktober 2019 um 15:53:

    Ich bin ja vor gut zwei Jahren von München nach Augsburg umgezogen, weil München unbezahlbar geworden ist – und immer ätzender wird. Dafür, dass Augsburg die drittgrößte Stadt Bayerns ist, ist es erstaunlich provinziell, aber provinzieller brauche ich es nicht. Wenn man will, kann man in Augsburg recht unbehelligt leben, ohne gleich geschnitten zu werden. Auf der anderen Seite bin ich immer noch (angenehm) geflasht davon, wie nett die Leute hier zum Teil sind, wenn man mal die Münchner als Benchmark nimmt. ich bin jetzt über 50, einen Ortswechsel in ein kleines Kaff mit Dorfstammtisch und Kirchweih würde ich mir in meinem Alter nicht mehr geben wollen, denn da bleibst du dein leben lang der Fremde. ich bin das zwar schon gewohnt, weil ich seit über 35 Jahren nicht mehr dort wohne, wo ich aufgewachsen bin, aber härter brauche ich das nicht.

    Was ich völlig bizarr finde: Wie weit mir München mittlerweile am Allerwertesten vorbei geht. Ich arbeite direkt am Hauptbahnhof, laufe jeden Morgen vom Bahnsteig direkt ins Büro. ich könnte in einer Viertelstunde zum Stachus vorlaufen, bloß: was will ich da? Jetzt haben sie die Front des Hauptbahnhofes abgerissen, und ich habe es mir noch kein einziges Mal angesehen, weil ich immer hinten raus laufe.

    Als wir nach Augsburg gezogen sind, habe ich meine Frau noch darauf hingewiesen, dass ich sie samstags immer auf meiner Bahn-Dauerkarte kostenlos mitnehmen kann und wir also auch am Wochenende einen München-Bummel machen können. Wie oft haben wir es seitdem gemacht? Ich glaube, einmal – und es war ätzend.

  • Florian meinte am 10. Oktober 2019 um 15:56:

    Schön auf den Punkt gebracht, „Herr Nachbar“! Schöne Grüße aus Wertheim.

  • Tom meinte am 10. Oktober 2019 um 21:14:

    sounds good -> welcome home!

  • DER HALBHARTE MANN meinte am 11. Oktober 2019 um 7:09:

    Ich bin durch das interessante Foto hier gelandet. Ein gut geschriebener und lesenswerter Text.

    Freundliche Grüsse
    http://www.derhalbhartemann.com

  • Volker meinte am 14. Oktober 2019 um 15:20:

    Nächste Stufe: Bodenmais. Niederbayern. Du bist gewarnt.

    Eine Bäuerin sagte damals meiner Mutter zu Volkers Aussichten auf die Ehe (neben dem Wetter das wichtigste Thema im Dorffunk): „Mei, des is so a netta Bursch, wann a nua katholisch warad.“. Hatte mich als kleinstes Übel evangelisch taufen lassen, da Ethikunterricht zu der Zeit im Josef-Effner-Gymnasium Dachau ein Fremdwort und „irgendwas mit Gott“ [tm] (R) (C) mußte halt sein. Das zwar aus dem vorigen Jahrtausend, trotzdem noch gar nicht so lange her.

    Aber, nicht täuschen lassen: Die Spießigkeit hält auch auf dem Lande Einzug. Wehe dem, der am heiligen Sonntag mit Rasenmäher ohne blauen Engel die Weißdornstrünke mäht. Wehe dem, der der Kirche fernbleibt. Und wehe dem, dem irgendwelche altbackene Tradition nichts bedeutet.

    Könnte da jetzt von Oberbayrisch-Brandenburg aus dem Nähkästchen plaudern, mache ich aber nicht.

    Oans-zwoa-drei… Guten Tag und Tschüßchen!

  • Felixmitf meinte am 17. November 2019 um 11:02:

    Das mit der Verkehrs-, Umwelt- oder sonstwas-Wende wird nichts, weil ein Großteil der Bevölkerung auf dem Land wohnt und über Jahrzehnte so sozialisiert wurde, dass jeden Meter mit dem Auto fahren so selbstverständlich ist wie am Sonntag abend den Tatort schauen. Mal nicht schauen, mal nicht fahren? Unmöglich…
    Ich bin auch auf dem Land in einer Kleinkleinstadt großgeworden und bin eigentlich auch immer und alles über 500 m mit dem Auto gefahren. Das war man so gewohnt, ein Auto zu haben und es zu fahren war Fortschritt in den 70ern und den traditionellen Bewegungsformen weit überlegen. Dann 8 Jahre in der Stadt gewohnt, umgelernt, und jetzt wieder auf dem Land und ich wundere mich nur noch.
    Samstag auf dem Parkplatz vom Edeka ist die Hölle los, Leute müssen schon kreisen auf der Suche nach Parkraum, ich sehe Leute, die wohnen im gleichen Wohngebiet wie ich und das ist 200 m bis 1 km entfernt. Ich stelle mein Fahrrad am Radständer ab, an dem ansonsten nur Fahrräder von Kindern, alten Damen und Asylanten stehen. Wer einen Führerschein und Geld hat, zeigt das auch am Samstag auf dem Edeka-Parkplatz.
    Es ist aber nicht so, dass die Menschen faule Couch-Potatoes wären. Nein, da wird viel gejoggt und Rad gefahren, aber nur in der Freizeit und nur auf einem e-Mountainbike für 4000 € und immer in aufwendiger Sportwettkampfverkleidung, damit jeder sieht: Das ist meine Freizeit und ich fahre nicht Fahrrad, weil ich mir was anderes nicht leisten kann!
    Das Gleiche auch beim Parken. Der Landbewohner muß immer direkt vor der Haustüre parken, auch wenn er wo zu Besuch ist. Am Besten mit den Hausschuhen zu Hause ins Auto steigen. Auch als Besucher gilt: Der Weg vom Auto zur Haustür ist so kurz wie möglich zu halten, auch wenn das bedeutet, dass man den Nachbarn vor der Einfahrt oder auf dem Gehsteig steht.

    Ach, ich könnte da noch stundenlang meine kleinen Beobachtungen über den gemeinen Landbewohner schreiben… das Vorbild von „nachhaltigen“ Lokalpolitikern mit SUV, Sonntags-Autotourismus durch neue Wohngebiete, Muttis im Bullifieber fahren ihre 2 Kindern in den 1 km entfernten Kindergarten, regen sich aber gleichzeitig auf über die Planung eines neuen Kindergartens im Baugebiet (Begründuung: „der viele Verkehr ist gefährlich für die Kinder in der Wohnstraße“), bewundernde Blicke der Nachbarn, wenn wieder einer der aufstrebenden Jungmanager einen Audi A6 Dienstwagen mit 250 PS Diesel-PS bekommt, …

    Es wird nichts werden mit der Verkehrs-, Umwelt-, was auch immer Wende. Wir bräuchten 3 Generationen und 75 Jahre, um die Fehlentwicklung „motorisierter Individualverkehr“ zu korrigieren. Haben wir aber nicht.

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