Die Reine Wahrheit

Wir erleben wieder diese besinnliche Zeit des Jahres, in der der Spiegel sich wochenlang selbst geißelt. Den Anlass diesmal lieferten nicht Externa wie der Markt, die Werbeindustrie oder die Leserschaft, sondern ein Redakteur, indem er schöne Reportagen erfand, damit sie naja: so schön sind, wie es die Realität einfach zu selten liefert. Interessanterweise sagten gleich mehrere Kollegen aus Fachredaktionen dazu, dass das ihnen so nicht passieren kann, weil eben Fachthemen. Aber ist das wirklich so?

Auf den ersten Blick liegt die Sache eindeutig auf der Hand: Die Reportage, wie sie diese komischen Preisgremien wollen, hat sich von einer Beschreibung der Realität wegentwickelt zu einer ganz eigenen belletristischen Kunstform, die sich brutal ernst nimmt und voller bedeutungsschwangerer Details verdächtig glatte Geschichten erzählt. Ich habe diese Textform schon immer gehasst. In meiner Ausbildung mussten wir so etwas schreiben. Ich flüchtete mich in die Satire. Womit ich nicht rechnete: Der Dozent nahm das Papier schlichtweg ernst, obwohl der Inhalt in jugendlichem Übermut mit Geschlechtsteilen nur so um sich schlug. Satire versagt. Der Inhalt war außerdem in Teilen erfunden, damit ich eine Pointe präsentieren konnte. Zu dieser Zeit ahnte ich das erste Mal, wie meine Arbeit in einem postsatirischen Universum aussehen würde und dass die Reportage als Textform an sich Probleme hat, die weit über „mog i ned“ hinausgehen.

Feuer im Haus! Löscht es mit mehr Feuer!

Wer sehen will, wie tief das Problem sitzt, braucht bloß den zentralen Text des Spiegels zu ihrem Mitarbeiter Claas Relotius zu lesen. In geschliffenen Sätzen erzählt Redakteur Ullrich Fichtner eine ja: Geschichte. Zuerst natürlich eine Vorgeschichte. Dann: Wie das Verlagshaus den Fall aufrollte. Wie andere Mitarbeiter handelten. Wie Relotius schließlich einknickte und ein Geständnis ablegte. Der Verlagsgründer wird zitiert, die Statuten, die Stimmungen aufgeschrieben. Und in einem ist sich der Autor ganz sicher: Der Claas, der ist damit ganz alleine. Einzelnster Einzelfall, höchstens. Das steht dann in derselben hochgesülzten Textform, die Relotius zum Verhängnis wurde und niemand im Haus erkennt die Ironie. Claas Relotius hat nur etwas mehr von dem getan, was die Reportage schon immer verlangt: geschönt. Merkt schon keiner, dachte man vor dem Informationszeitalter. Manche denken das bis heute. Aber um die Lügerei wissen tun wir denke ich mittlerweile alle. Wer täglich die alte Textform „Nachricht“ aus Daten zimmert, wird über eine Spiegel-Reportage nur den Kopf schütteln können. Wie der Relotius zu jeder Situation in jeden Kopf schauen kann, wie immer die richtige Musik läuft, zu den passenden Details, das passiert eben nur im Märchen.

Was mich an der Textform „Reportage“ am meisten stört, ist: alles, schon ihre Grundkonstruktion. Die Verlage und mehr noch die Preis-Komitees erwarten runde, schöne Geschichten, die die Welt so nie schreibt. Also biegen die Schreiber die Realität zurecht. Heraus kommen Geschichten, die für ein Publikum offen erfundener Belletristik (also als Kurzgeschichten) zu schlecht sind, aber über das Versprechen „das ist wirklich passiert“ höchst interessant werden. Und diesen Betrug am Leser fand ich schon immer infam. Er liegt aber nicht an „Einzelnen“, wie es die aktuelle Diskussion zeichnet, sondern im System Reportage an sich.

Lügen für Fortgeschrittene: mit der Wahrheit

Es geht dabei nicht einmal zentral um Wahrheit. Von der Wahrheit gibt es meistens genug, dass sie jedwede vorangehende These stützt, solang es der Reporter geschickt anfängt. Lügen für Fortgeschrittene: Erzähle die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, aber besser nicht die ganze Wahrheit. Die ist sowieso zu lang. Viele Paare haben sich gegenseitig nie belogen, wohl aber betrogen. Das Problem liegt also woanders: an unserer Neigung zu runden Geschichten. Schon unsere Selbstwahrnehmung ist im Prinzip nur eine Geschichte, die wir uns fortlaufend selbst erzählen, und schon da stimmt die Hälfte nicht mit unabhängiger Beobachtung überein. Wie sollen wir da für Andere einen ausgeglichenen Eindruck produzieren? Mit der Unvoreingenommenheit tut sich selbst die Wissenschaft schwer, obwohl sie mit ihrer Disziplin gegen diese Eigenarten des menschlichen Denkens wirken will.

Von diesem grundlegenden Kommunikationsproblem kann kein Realist Fachmagazine ausnehmen. Gut: Es gibt nicht den Druck, einen Hanni-und-Nanni-Preis für den besten Reifentest abzustauben, daher liegen zumindest nicht die Maßstäbe an, die für Krimis und Reportagen gelten. Doch auch so kämpft die Fachpresse mit grundsätzlich demselben Problem: Ich kann darüber schreiben, welche Erfolge die DUH in Sachen „Umweltschutz gegen Konzerninteressen“ erzielen konnte. Sie kümmert sich sogar (in kleinem Maßstab) um die problematisch gewordenen Holzheizungen. Ich kann aber auch darüber schreiben, wie dreist sich die Organisation an Steuergeldern fett frisst. Das ist alles wahr. Ich muss nur etwas weglassen. Und selbst das war eine Lüge. Ich muss gar nichts weglassen, das tun Sie als Leser unbewusst selber. Als ich in meiner Kolumne über die DUH schrieb, standen beide Aspekte drin. Die Leser lasen jeweils für sich raus, ob das ein doofer Verein ist oder ob wir ihn trotz allem brauchen (die Schlussthese).

Geschichten über Geschichten über Affen

Wenn wir also über ausgewogene Berichterstattung sprechen, kommen wir auch in der Fachpresse nicht darum herum, dass menschliche Kommunikation nur sehr rudimentär funktioniert. Der Gedanke, den der Texter vermitteln will, er verwandelt sich auf dem Weg ins Leserhirn in vollkommen unvorhersehbare Dinge. Das ist die Crux am Schreiben, aber auch das Wunderbare. Dass sich die zu vermittelnden Gedanken in den Köpfen von Sender und Empfänger jemals komplett gleichen, halte ich nach Jahrzehnten der Forschung und Textanalysen für ausgeschlossen. Und da habe ich das Atommüll-Fass „Meinung“ noch komplett verplombt gelassen. Der Mensch ist ein „Geschichten erzählender Affe“, schrieb Terry Prattchett einmal. Er reimt sich seine Welt, wie sie ihm gefällt, aus einem Gewebe interagierender Geschichten zusammen. Dieses Problem begleitet uns auch ohne dedizierte Märchenabteilungen. Wir müssen das Beste draus machen. Und vielleicht konnte ich ja sogar einen Teil des Gedankens vermitteln, dass die Geschichte „Claas Relotius ist ein einzelnes Problem“ ungefähr so wahr ist wie seine, nennen wir sie beim Namen: Geschichten.

 

Dieser Text war eigentlich für die Kolumne gedacht. Hier wollte ich meine Eindrücke von der CES beschreiben, die ich für Heise/Autos für uninteressant hielt. Es kam dann umgekehrt: Die CES-Nachlese steht dort und das steht hier. Beide Artikel könnten Spuren ihrer vorherigen Bestimmung enthalten.

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Kommentare:

ältere
  • Die Reine Wahrheit – Mojomag – Westbiker´s Checkpoint meinte am 16. Januar 2019 um 16:08:

    […] Weiterlesen […]

  • eugen meinte am 17. Januar 2019 um 7:58:

    äh, ja eh, aber was willst du uns damit sagen?

    • Clemens Gleich meinte am 17. Januar 2019 um 9:47:

      „Trust no one!“

  • Flatliners – Mojomag meinte am 18. Januar 2019 um 15:11:

    […] praktisch nichts, was nicht auch kostenlos auf deren Online-Seiten steht – mit Ausnahme von einem Lügenmärchen vielleicht. Also haben wir kontinuierliche Preiserhöhungen bei gleichzeitig sinkender Qualität […]

  • Volker meinte am 21. Januar 2019 um 15:41:

    Naja. Bericht, Reportage, Nachricht, Schilderung, Darstellung, Geschichte, Erzählung, Darstellung, Meldung, Aufsatz – was hätten sie denn gerne?

    Leider hilft die Wikipedia auch nur bedingt: „[…] Als Reportage (von lateinisch reportare = berichten, melden) bezeichnet man im Journalismus unterschiedliche Darstellungsformen, bei denen der Autor nicht vom Schreibtisch aus, sondern aus unmittelbarer Anschauung berichtet. In den Druckerzeugnissen steht der Begriff gemeinhin für einen dramaturgisch aufbereiteten (siehe auch Reportagefotografie) Hintergrundbericht, der einen Sachverhalt anhand von konkreten Beispielen, Personen oder deren Schicksalen anschaulich macht. Während Nachricht und Bericht Distanz wahren, geht die Reportage nah heran und gewährt auch Beobachtungen und weiteren Sinneswahrnehmungen ihrer Protagonisten Raum. […]“ und schwurbelt ein bisserl um eine Positionierung herum, wie genau man es denn in einer Reportage mit der Wahrheit nehmen darf.

    OK, die Einreichungskriterien des Deutsche Reporterpreises vom Reporter-Forum e.V. vielleicht? Die hat Relotius doch wohl sicher mit Füßen getreten, oder? Die FAQ (http://www.reporter-forum.de/index.php?id=168) zur Hilfe!

    F: „Ich würde gern eine Reportage von mir für die Datenbank einreichen. Ist das möglich?“
    A: „In der Datenbank sammeln wir Geschichten, die einen bedeutenden Reportage-Preis gewonnen haben oder für einen solchen nominiert waren, oder Texte von Autoren, die wir für diese Website interviewen.“

    Hmmm. Und dann Blahfasel, warum NOCH ein Journalistenpreis und ausgrechnet vom Reporterforum. Aaaah! Die Teilnahmebedingungen (http://www.reporter-forum.de/index.php?id=231). Da erfahre ich dann alles, was es zum Galizia-Stipendium zu wissen gibt. Und ein Antragsformular. Zweimal sogar.

    Letzter Versuch: https://www.google.com/search?q=spiegel+reportage+richtlinien. Zu naiv. Keine relevanten Treffer.

    Wäre ich Claas Relotius, ich würde mich angesichts eines Berufsstandes, der sich schon bei der klaren Definition seiner eigenen Grundsätze schon so schwert tut überhaupt nichts scheißen. Bei der blumigen Ausschmückung. Beim Dehnen und Aufhübschen dessen, was man als Wahrnehmung oder Realität bezeichnet. Und natürlich beim Dazuerfinden von alternativen Fakten (d. h. wie es plausiblerweise auch gewesen sein _könnte_, vulgo: Lügen).

    Warum sollte es dem Spiegel und der Kunstfort der „Reportage“ auch anders gehen, wie dem World Press Photo Award oder dem Wildlife Photographer of the Year. So gesehen hat Relotius also nur einen ausgestopften Ameisenbär präsentiert und sein Herz war eben dunkler als das, was Giovanni Troilo aus Europa präsentierte.

  • The_Wosch meinte am 26. Januar 2019 um 13:23:

    Man muss vielleicht nicht alle Reportagen verdammen. Wir erinnern uns an gute Reportagen von Kisch und Wallraff. Möglicherweise ist es nur so, dass es für den großen Bedarf an Reportagen zu wenig wahre und runde Geschichten gibt, oder zuwenig Geld, um die wahren und runden Geschichten zu recherchieren. Da muss man dann eben welche erfinden. Dafür braucht‘s eigentlich auch gar keinen Relotius; den zehnmillionsten szenischen Einstieg wird auch eine Software hinkriegen, ebenso ein angemessen bedeutungsschwangeres Ende.

    Als ich das erste Mal von Relotius‘ Erfinderei las, mußte ich lachen, und mein erster Gedanke war: „Recht geschieht ihnen“

    • Clemens Gleich meinte am 27. Januar 2019 um 14:33:

      Ich verdamme nicht alle Reportagen, sondern ich verdamme die Textform an sich, weil sie viel zu anfällig ist gegenüber unserer Neigung zu Geschichten. Wallraff konnte, was er konnte durch eine gute Portion Selbsthass. Selbsthass manifestiert sich bestenfalls in Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber. Was ich von Wallraff daher las, war nie geschönt, geschmückt oder mit verdächtig passender Musik unterlegt. Es war dem Leser hingeworfen wie ein frisch vom Kadaver geschnittenes Stück Fleisch. Die Enden waren hässlich. Die Einstiege waren zäh. Es kam mir nie unrealistisch glatt vor, im Gegenteil waren die Geschichten so verworren, wie sie das Leben eben manchmal schreibt. Wenn wir aber auf innere Zustände einzelner Autoren angewiesen sind, wird in diesem Feld weiterhin nicht viel Wahres rumkommen.

      Beispiel: Der Spiegel kasteit sich gerade wegen der Südsee-Reportage von Relotius. Die „untergegangenen“ Orte in Kiribati sind gar nicht untergegangen. Bis auf einen! Paris sei verlassen. Damit implizieren sie, dass die Grundbotschaft des Artikels „Wehe, wenn ich auf das Ende sehe, verwecher Gliehmawandel!“ stimme, obwohl ein paar Details (gut: zwei Drittel) gelogen sind. Damit täuschen sie nicht nur den Leser, sondern auch sich selbst. Paris ist seit langen Zeiten verlassen, wahrscheinlich, weil es keinen gescheiten Hafen hatte, und das Atoll liegt genauso hoch wie andere im Archipel. Relotius war dort nie, er hat in LA seinen Flug storniert und hat sich alles ausgedacht. Das Gebären des Spiegels jetzt ist Wasser auf die Mühlen aller, die den deutschen „Gesinnungsjournalismus“ kritisieren. Der Spiegel scheint damit für den Leser zu sagen: „Ja, alles falsch, aber die MORAL von der Geschicht‘ ist so gut!“ Da denk ich dann auch wie Du: Geschieht ihnen dann schon recht.

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