Die elektronischen Geister in den Maschinen, wir haben sie gerufen, aber kaum einer begreift sie. Viel Zeit ist vergangen seit Daimlers Reitwagen anno 1885, und selbst den verstehen die meisten nicht, wenn sie ehrlich sind. Kein Wunder, dass die im Unsichtbaren arbeitende Elektronik gern als Voodoo rundweg abgelehnt wird. Hier ein paar Grundlagen digitaler KFZ-Technik.
Sagen wir‘s doch sofort mal, wie es ist: Ohne das, was in der Blackbox still vor sich hin schaltet und waltet, geht an einem modernen Motorrad gar nichts. Zu händischer Zündwinkelverstellung am Lenker, wartungsintensiver Kontaktzündung und ölenden Motoren ohne Leistung möchten nur die Wenigsten zurückkehren. Im Gegenteil: eine der beliebtesten Oldtimer-Umrüstungen ist die auf kontaktlose Zündung. Da sind auch Halbleiter drin. Die Elektronik hilft der Mechanik zu einem Niveau von Haltbarkeit und Wartungsarmut, das für uns heute selbstverständlich ist, für das Rallye-Fahrer früherer Zeiten jedoch ihre Kinder verkauft hätten. Selbst der Zweiradmechaniker heißt mittlerweile „Zweirad-Mechatroniker“. Und trotz all dieser Vorzüge ist Elektronik ein ungeliebtes Kind, was hauptsächlich daran liegt, dass sie unsichtbar arbeitet und daher miss- bis unverstanden ist.
Was macht sie?
„Warum überhaupt Elektronik?“ ist eine berechtigte Frage, denn im Prinzip kann man einen Verbrennungsmotor rein mechanisch-elektrisch lösen, wie frühe Ausführungen zeigen. Zum Beispiel der Zündfunke. Die Flammenausbreitungsgeschwindigkeit im Brennraum steigt zum Beispiel nicht mit der Drehzahl, deshalb zündet man bei höherer Drehzahl immer früher, um die Verbrennungsenergie möglichst gut zu nutzen. Um diese Zündwinkelverstellung zu automatisieren, hatten Motoren zur Hochzeit der Feinmechanik Konstruktionen mit Gewichten, die sich bei Fliehkraft wie beim Kettenkarussell nach außen bewegten und dabei einen Mechanismus in Richtung früherer Zündung betätigten. Oder man verwendete den Unterdruck aus dem Ansaugtrakt. Beide Lösungen funktionieren — allerdings weder sonderlich ausfallsicher noch sonderlich robust und genau funktionieren sie schon mal gar nicht. Die Unterbrecherzündung ist ein weiteres Beispiel. Die moderne Gemischaufbereitung dann, ohne die unsere geltenden Abgasgrenzwerte nicht möglich sind, die ist ohne Regelelektronik nach derzeitigem Kenntnisstand unmöglich. Mechanische Lösungen wie die genannten sind zwar oft im Wortsinn be-greif-bar, selbst mit geringem Geschick reparierbar und haben einen wunderbaren Steampunk-Charme, doch sie sind tendenziell teuer, empfindlich, wartungsintensiv, klobig und schwer. Elektronik ist billiger, robuster, wartungsarm bis -frei, klein und leicht, deshalb hat sie sich nicht nur am Motorrad durchgesetzt.
Die wohl wichtigsten Bauteile der elektronischen Komponenten sind Microcontroller, also integrierte Logikschaltkreise, die Befehle in Form von Spannungsmustern auf ihren Halbleitern abarbeiten. Im Prinzip also dasselbe wie die Prozessoren der Desktop-Computer, nur kleiner, simpler, robuster. Wäre ein PC ein Luxus-Tourbus mit allem Schnickschnack bis hin zum Pool auf dem Dach, dann wären Microcontroller Motorräder, meistens von Ural. Jeder kennt wahrscheinlich vom Sehen die schwarzen kleinen Dinger mit Metallfüßen auf offenen Platinen, vieles davon sind Microcontroller, alles davon integrierte Schaltkreise (Integrated Circuit, IC). Die schwarzen Dinger sind jedoch nur das Gehäuse, sie bestehen im Regelfall aus Keramik. Der eigentliche Halbleiter ist ein winziges, hauchdünnes Plättchen strukturiertes Silizium im Innern dieser Keramikhülle. Chips mit den Ausmaßen eines (kleinen) Fingernagels gehören schon zu den großen. Wer die harte Keramik eines alten Prozessors vom Computerschrott mal mit einer Zange aufbricht, sieht den kleinen Chip, der über haarfeine Drähte mit den Metallfüßchen seines Gehäuses verbunden ist.
Über diese Drähte fließt Strom. In der Analogtechnik liegen dort Spannungen an, die je nach Höhe fließend zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Durchgesetzt hat sich jedoch die Digitaltechnik, die ignorant nur diskrete Zustände kennt, im Prozessor praktisch immer zwei: Entweder es liegt eine bestimmte Spannung an (Eins) oder eben nicht (Null). Digitale Datenverarbeitung hat sich (auch und vor allem in Fahrzeugen) deshalb durchgesetzt, weil die Signalübertragung so viel störunanfälliger ist. Eine leicht veränderte Spannung, etwa durch elektromagnetische Interferenz (Störung durch ein anderes Feld), verfälscht das Signal. Wenn es analog verarbeitet wird, sammeln sich diese Störungen von überallher an, bis irgendwann alles im Rauschen untergeht. Einer digitalen Signalverarbeitung ist sowas um viele Größenordnungen egaler. Zwar kann man binär digital auf einem Kabel nur noch 0 oder 1 darstellen, aber das löst man einfach durch mehr Kabel und/oder serielle Übertragung: 0100111010110010 ist ja auch hintereinander eine Information. Eine dieser binären Stellen nennt man ein „Bit“, acht Bit sind ein „Byte“, 1024 Byte sind ein „Kilobyte“, 1024 Kilobyte ein „Megabyte“ und so weiter. Wenn man binär mit seinen zehn Fingern zählt, kann man also bis über 1000 zählen (beliebte Nerd-Partywette): 2 hoch 10 nämlich. Mit diesen Zahlen arbeiten Microcontroller. Bestimmte Zahlenfolgen auf bestimmten Kanälen sind dann Befehle, andere sind Daten, manche sind Protokollinformationen. Jede digitale Information, sei es dein Word-Brief an Oma oder das Kennfeld deines Motorrads, besteht auf der untersten Ebene schlicht aus einer langen Folge von Nullen und Einsen. Das Herz jeder Steuerelektronik ist also aus Silizium, und ihre Seele aus reinster Mathematik. Nur die reale Welt ist das halt nicht.
Wandel der Welt und zurück
Die reale Welt ist analog. Die Position einer Kurbelwelle, die Drehzahl der Räder oder die Temperatur der Ansaugluft sind es daher ebenfalls. Deshalb wandelt die Elektronik solche Messwerte zur Weiterverarbeitung in digitale Daten, also letztendlich in Zahlen um. Üblicherweise sitzt dabei heute im selben Sensorgehäuse die Verarbeitungsintelligenz schon mit. Beispiel Luftmassenmesser: Er besteht aus zwei Metallstreifen, von denen einer im Ansaugluftstrom hängt. Die Metallstreifen ändern mit der Temperatur ihren elektrischen Widerstand, und aus der Differenz kann die Einspritzanlage die Luftmenge schätzen (kalte Luft ist dichter). Die Einspritzlogik in der Motorbox will diese Daten digital, daher bereitet die Messelektronik zusammen mit einem analog-digitalen (A-D) Wandler und etwas Verarbeitungslogik ihre Messwerte schon vor Ort auf. Das sieht ohne Gehäuse dann so aus:
Aufbereitung bedeutet: die stufenlose, analoge Realität muss in die Stufen einer Zahl gemappt werden. Dabei kommt es darauf an, wie genau der Datenwert ist. Ein Byte mit seinen acht Bit kann zum Beispiel 256 Stufen darstellen (2 hoch 8). Ein Wert, der in der Realität zwischen zwei Stufen liegt, hat eben einen kleinen Fehler. Der ist zunächst nicht schlimm, doch summiert er sich beim Weiterrechnen eben auf, sodass er irgendwann durchaus spürbar groß werden kann. Frühe oder einfache Motorsteuergeräte, zum Beispiel das des VW Käfer 1600i, arbeiteten mit 8 Bit Genauigkeit und für viele Anwendungen reicht das auch heute noch. Moderne Motorsteuergeräte in Motorrädern rechnen im Kern jedoch mit 16 oder 32 Bit langen Binärzahlen. Wie beim Dezimalsystem jede Stelle die Zahl um den Faktor zehn vergrößert, verdoppelt jedes zusätzliche Bit als zusätzliche Stelle im Binärsystem die Zahl und damit die Genauigkeit. Von 8 auf 16 Bit steigt daher die Genauigkeit nicht aufs Doppelte, sondern aufs Quadrat: von 256 auf 65536 mögliche Werte. Damit kann man schon recht genau rechnen. Und bei 32 Bit sind schon mehr als vier Milliarden Werte darstellbar.
Die Motorbox mit ihrem Prozessor wird in der Presse oft als Gehirn des Krads bezeichnet und man kann sie sich wirklich ein bisschen so vorstellen wie unser vegetatives Nervensystem. Der Controller darin nimmt Sensorwerte wie Ansaugluftmasse, -druck und -temperatur, Motordrehzahl, Drosselklappenstellung, Abgaszusammensetzung und mehr entgegen, schlägt dann in seinen Kennfeldern nach, überlegt ein bisschen und sagt schließlich, wie viel Sprit die Einspritzdüsen in die Saugrohre lassen sollen. Der Controller errechnet die Spritmenge beziehungsweise Einspritzdauer als Zahl, die wiederum in eine analoge Zeit an der Düse gewandelt wird. Dieser Regelkreis ist komplex und erfordert einen gewissen Fertigkeitslevel, damit alles gut funktioniert. Wie ein schlampig eingestellter Vergaser keinen Spaß macht, so sind auch schlecht programmierte Einspritzanlagen eine Krankheit. Abhilfe schaffen in beiden Fällen Experten. Eine Motorbox kann man zum Beispiel als Zubehör frei programmierbar kaufen und dann seine eigene Gemischabstimmung einstellen, wie es auch Rennteams machen. Oder jemand bietet ein überarbeitetes Mapping für die originale Motorbox an. Andere gebräuchliche Systeme wie ABS arbeiten in einem der Motorbox sehr ähnlichen Kreis: Messen (ABS: Raddrehzahlen), digitalisieren, verarbeiten, entscheiden und schließlich tun (ABS: Ventile öffnen und schließen).
Licht und Schatten von 0 und 1
Wie schon eingangs gesagt wären Motorräder, wie wir sie heute kennen, ohne Elektronik und Datenverarbeitung nicht möglich. Doch obwohl viel an der Kritik der Elektronik aus Unwissenheit entsteht, ist ein Teil durchaus berechtigt. Der Fairness halber sei gesagt, dass viele Probleme, die pauschal kategorisch der Elektronik zugeschoben werden, in Wirklichkeit eher mit der steigenden Gesamtkomplexität des Systems Motorrad zusammenhängen. Man kann eine Einspritzanlage auch recht simpel bauen und vor allem mit Rückfallebenen. Luftmassenmesser abgerissen? Nehm ich halt Druck und Temperatur. Dennoch: Obwohl elektronische Zündanlagen um Welten zuverlässiger sind als Kontaktzündung, bleibt dem Fahrer im Fall eines Defekts oft nur der Tausch der kompletten Komponente. Eine Kontaktzündung kann oft selbst der Laie so flicken, dass er nach Hause kommt. Gut, er *muss* das auch gelegentlich, und die Zivilisation lacht ihn aus. In der Wüste Gobi kann das allerdings anders aussehen, dort ist er vielleicht froh, dass er mit drei Stöckchen und einem Brocken Eselscheiße seine Vergaser bis zum nächsten Dorf fixieren kann. Für den Rennbetrieb oder Rallyes ist die Empfehlung heute jedoch immer: Elektronik, Einspritzanlage. Für die Straße eh. Einspritzanlagen sind genauer in der Gemischaufbereitung, konzeptionell robuster und weniger zickig.
Die Zukunft geht deshalb in Richtung mehr Elektronik, aber auch in bessere. Ein weiterer Trend kommt aus dem Autobau. Dort ist es mittlerweile sehr üblich, dass sich Fahrzeuge einer Produktions-Charge nur noch durch ein paar Bits und Bytes unterscheiden. Zum Beispiel dieses Abbiegelicht: die Option kostet Aufpreis, der Hersteller schaltet jedoch bei Bestellung nur eine Funktion frei, die das Fahrzeug ohnehin schon hat. Ein erstes Beispiel so eines Features ist die Traktionskontrolle der BMW-Straßenmaschinen (K-Reihe, R-Reihe). Es gibt sie nur für Käufer des Conti-ABS, denn sie hat keine physikalischen Komponenten, ist rein in Software realisiert. Mit „Software“ bezeichnet man die gespeicherten Befehlsstrukturen, die Programme und Funktionen, die dann auf den Controllern laufen. Software besteht also auch nur aus Information, aus Zahlen, aus Nullen und Einsen. Diese Software liegt meistens außerdem bereits bei Auslieferung im Speicher des Steuergeräts, beim Kauf setzt der Händer oder Hersteller einfach einen Haken, ob der Kunde das jetzt benutzen darf oder nicht. Die Traktionskontrolle der K-Kräder benutzt einfach die Sensoren des ABS und sagt dann bei Hinterradschlupf der Einspritzung und Zündung, wie sie eingreifen sollen. Sie ist nicht mehr als ein Geist in der Maschine, kostet aber Geld. Aber auch das fließt ja heute meist als Datenstrom. Die Wunder des Informationszeitalters.
Die gute, alte, verständliche Mechanik bleibt derweil nicht stehen. Sie wird nur kleiner. Die Drehratensensoren von Assistenzsystemen wie ESP im Autobereich haben nämlich jüngst den Sprung in die Welt der Serienmotorräder geschafft. Zum Beispiel verwenden die Aprilia RSV4 Factory APRC und die BMW S 1000 RR zwei zueinander senkrechte Drehratenmesser, beide für die Schräglagenschätzung der Traktionskontrolle. Diese Sensoren sind Schwingungsgyrometer. Eine feine, neben die integrierten Schaltkreise ins Siliziumsubstrat geätzte Kammstruktur schwingt mit einer Frequenz von typischerweise etwa 2000 Hertz (Schwingungen pro Sekunde). Wird dieses schwingende System nun auf seiner Messachse gedreht, entsteht eine der Drehrate proportionale Corioliskraft, die der Chip misst, aufbereitet und an interessierte Steuergeräte weitergibt. Da mittlerweile sogar Consumer-Elektronik wie Apples iPhone mikromechanische Drehratensensoren haben, werden BMW und Aprilia nicht lange allein bleiben mit ihren Motorradanwendungen. Schwindlig? Orientierungspunkt: Das Gas bleibt rechts.
Bilder: Bosch
Hi schöner Artikel – als Elektronikingenieur kann ich mal behaupten das du die Basics von Elektronik (101100101 usw. ) gut für einen Laien erklärt hast 😉 Sehr schön – bis zum Waver werden sich wohl die wenigsten Gedanken um Ihre Fahrzeugelektronik gemacht haben.
Vor kurzem stand ich auch vor der Wahl mir ein Motorrad mit Einspritzung oder Vergasser zu holen. Alte Technik kann man ja schließlich alleine zusammen flicken. Am Ende ist es doch eine neue KTM 690 geworden – mit einiger Elektronik die funktioniert.
Ob nun in der Wüste der Vergasser auseinander fällt oder die Microchips überhitzen. Ist doch eigentlich das gleicht wie früher – nur eben Zeitgemäß…
Im Notfall hilft immer schieben!
Gruß Martin
Martin! Ich suche auch gerade (gut: immer noch) ein Motorrad, und die Hauptspezifikation ist: Einspritzanlage. Die hat nämlich einen entscheidenden Vorteil: Bei Vergasern denken die Leute, sie verstehen das Teil (was selten stimmt), deshalb fummeln sie dran rum, bis der Motor zehn Liter säuft und irgendwann im eigenen Sprit ertrinkt. Bei Einspritzanlagen trauen sich diese Fummler nicht, weil sie hier gar nicht in den Irrglauben geraten, das zu verstehen.
Clemens!
Du hattest doch auch lange die Mille. Ich selbst hatte ne 2007er Tuono, bekanntlich mit gleichem (geilem) Rotax-Motor.
Speziell bei diesem Mopped/Motor: Hattest Du beim – gefühlvollen – Gasanlegen nie das Gefühl:
Mensch, was rechnet jetzt das Ding wieder rum, spritz doch endlich ein!
Sowas versaut einem kolossal die Linie.
Oder gefühlten 10PS Leistungsunterschied aus ein und der selben Kurve, bei vergleichbaren Außenbedingungen?
So ein schönes Mopped, hat mir aber die Freude an Einspritzungen im Einspurfahrzeug gründlich verdorben.
Wobei meine 1997er TL1000 da trotz prähistorischer (Mopped-) Einspritztechnik da seltsamerweise unkapriziöser war.
Ich gehe aber davon aus, das solche Probleme (Gedenk-Millisekunden / Leistungssprünge)mittlerweile gelöst sind, und der Vergangenheit angehören. Bin allerdings noch kein Krad mit Einspritzungen des aktuellsten Entwicklungstands gefahren. Meine 950SM hat ja Vergooser, und: Läuft völlig ohne Fummeln seit 30000km problemlos, bei stets reproduzierbarem Ansprechverhalten.
Ne, ich hatte nie das Gefühl, dass die Mille große Gedenksekunden hat – zumindest keine, die größer wären als die Verzögerung eines Gleichdruckvergasers. Vergaser funktionieren ja normalerweise – solange eben kein Depp dran rumfummelt, und leider gibt es sehr viele Deppen, die Gebrauchte anbieten.
[…] Quelle: Mojomag […]